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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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ruhten, und er lauschte ihren Vorstellungen gern. Es waren tadellose Erfindungen, ohne jeglichen Anspruch ihrerseits, seine Meinung dazu zu hören, was denn nun wirklich los sei. Vielleicht wusste sie, dass es ihm aus den Poren gesaugt werden müsste, eher durch ein Fieber der Haut ausgeschwitzt, als durch das Bewusstsein ausgedrückt.
    Oder dass er ein Mann sei, der vor seiner Vergangenheit flüchtete. Er müsse eine üble Kindheitserinnerung, einen Unglücksfall seiner Jugendjahre wegträumen. Filme seien Wachträume – Tagträume, sagte sie, Schutz gegen den Rückstoß jenes frühen Fluches, jenes Unheils. Es war, als rezitierte sie Repliken aus der verunglückten Wiederaufnahme eines einst geliebten Theaterstücks. Der zarte Klang ihrer Stimme, der schöne Schein, den sie aufbauen konnte, lenkte Leo manchmal ab, dann bekam er eine summende Erektion unter der Bettdecke.
    Ob er im Kino sei, um einen Film zu sehen, fragte sie, oder wolle er vielleicht im engeren, im wesentlicheren Sinne einfach nur im Kino sein?
    Er dachte darüber nach.
    Er könne auch zu Hause bleiben und fernsehen, einen Film nach dem anderen, auf Kabel, dreihundert Sender, sagte sie, bistief in die Nacht. Dann müsse er nicht von Kino zu Kino, U-Bahn, Bus, Sorge, Hektik, und es wäre wesentlich bequemer, er könne Geld sparen, halbwegs anständig essen.
    Er dachte darüber nach. Es war offenkundig, nicht wahr, dass es einfachere Alternativen gäbe. Jede Alternative wäre einfacher. Ein Job wäre einfacher. Sterben wäre einfacher. Aber er begriff, dass ihre Frage philosophisch gemeint war, nicht praktisch. Sie stocherte in seinen verborgenen Ecken herum. Im Kino zu sein, um im Kino zu sein. Er dachte darüber nach. Diese Geste war er ihr schuldig.
    Die Frau kam herein, als der Hauptfilm begann. Er hatte sie seit einer Weile nicht gesehen und stellte überrascht fest, erst jetzt, dass ihre Abwesenheit ihm aufgefallen war. Sie war eine Frischrekrutierte – sagte man so? Er wusste nicht mehr genau, seit wann sie aufgetaucht war. Sie wirkte unbeholfen, etwas eckig, und sie war wesentlich jünger als die anderen. Die gab es auch, eine lose Gruppe von vier, fünf Leuten, die jeden Tag die Route machten, jeder und jede hatte seinen und ihren eigenen rigiden Plan, im Zickzack durch die Stadt, von Kino zu Kino, morgens, nachts, wochenends, jahrelang.
    Leo rechnete sich selbst nicht zu der Gruppe. Er sprach nie mit den anderen, kein Wort, warf ihnen auch keinen Blick zu. Er sah sie trotzdem ab und zu, hier und da, den einen oder anderen. Sie waren undeutliche Silhouetten mit teigigen Gesichtern, zwischen den Plakaten im Foyer postiert in ihren tristen Kleidern, ihrer unruhigen Art, ihrer postoperativen Haltung.
    Er versuchte zu ignorieren, dass es andere gab. Aber wie konnte ihn das nicht stören? Es war unvermeidlich, sie zu sehen, den einen im Quad, den Nächsten am folgenden Tag imSunshine, zwei im Empire 25 in der großen Rotunde oder auf der langen, schmalen, steilen Rolltreppe, die aussieht, als führte sie in irgendeine Wolkenkratzerhölle.
    Aber dies war anders, sie war anders, und er beobachtete sie. Sie saß zwei Reihen vor ihm, am Ende der Reihe, als die ersten Bilder blasses Licht in den vorderen Teil des Zuschauerraums warfen.
    Da war die lange Metallstange des alten Polizeischlosses, die einige Zentimeter vor der Eingangstür in ihrer Nische im Boden verschwand. Da war der hohe schmale Heizkörper, ein Überbleibsel ohne Verkleidung, unter dessen Absperrventil eine Schüssel stand, um etwaige Tropfen aufzufangen. Manchmal starrte er in die Rippen des Heizkörpers und dachte seine Gedanken, die allesamt nicht auf Worte zu reduzieren waren.
    Da war das beengte Badezimmer, das sie sich teilten, wo sein breiter Hintern sich kaum zwischen der Wanne und der Wand hindurch und auf den Toilettensitz zwängen konnte.
    Manchmal verließ er sein Klappbett, auf Einladung, und verbrachte die Nacht mit Flory in ihrem Schlafzimmer, wo sie wehmütigen Sex miteinander hatten. Ihren Freund, Avner, erwähnte sie nie, nur einmal seinen Namen und die Tatsache, dass er einen Sohn in Washington hatte.
    An einer Wand hing ein Foto von ihren Großeltern, die Art altes Familienfoto, auf dem die Farben und Kontraste so verblasst sind, dass es zu etwas Allgemeinem wird, den Vorfahren, Ahnen, toten Verwandten von irgendwem.
    Da waren die Notizbücher, hinten in den Wandschrank gestopft, Leos Aufsatzhefte, die ihn an die Grundschule erinnerten, mit schwarz-weiß

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