Der Engel Esmeralda
Spülen. Dann tänzelte sie davon, in eine Jacke hinein und zur Tür hinaus. So machten sie das, sie kamen und gingen. Sie musste schnell ins Studio, nach Midtown, und er musste ins Kino, der Film lief um zehn Uhr vierzig am Vormittag, fußläufig von hier, dann ein weiterer Film woanders, und danach noch einer woanders, und schließlich ein letzter, bevor sein Tagwerk vollbracht war.
Es war ein drückender weißer Sommertag, und Männer in orangen Westen presslufthämmerten entlang der Mittellinie der breiten Straße, Betonbarrieren säumten die schroffe Spalte, alles, was sich links und rechts davon bewegte, versuchte sichzu schützen, Taxis im Stop-and-go-Modus, Fußgänger, die schubweise in taktischen Ausbrüchen über die Straße sprinteten, Handys ans Ohr geschweißt.
Er ging westwärts und spürte bald das fleischige Gewicht seiner Schritte, die Breite von Brust und Hüften. Er war schon immer füllig, langsam und stark gewesen, jetzt war er fülliger und langsamer, all die gesättigten Fette, die er sich Handvoll um Handvoll in den Mund schaufelte, er konnte nicht widerstehen, wenn er zusammengesackt am Tresen eines Diners hockte oder neben einem Büfettwagen stand. Er aß Essen nicht, er grapschte es, grapschte sich eine Portion und zahlte und flüchtete, und der Nachgeschmack des Verschlungenen hing ihm noch stundenlang irgendwo im Unterleib herum.
Das war sein Vater beim Essen, der alternde Sohn füllte den ausladenden Rahmen seines Vaters aus, wenn auch nur das.
Auf der Sixth Avenue wandte er sich gen Norden, er wusste, das Kino würde praktisch leer sein, drei oder vier einsame Seelen. Kinogänger waren Seelen, wenn nur wenige kamen. Am späten Vormittag oder frühen Nachmittag war das fast immer der Fall. Sie blieben einsam, auch wenn sie das Kino verließen, kein Wort, kein Blick wurde gewechselt, anders als Seelen bei anderen gemeinschaftlichen Erlebnissen, einem Unfall oder einer Naturkatastrophe weit weg.
Er zahlte an der Kasse, bekam seine Karte, gab sie dem Mann im Foyer und steuerte direkt die Toiletten in den Katakomben an. Ein paar Minuten später nahm er seinen Platz in dem kleinen Kino ein und wartete darauf, dass der Film anfing. Warte jetzt, beeil dich später, hieß das Motto des Tages. Die Tage waren immer gleich, die Filme nicht.
Erhieß Leo Zhelezniak. Er hatte sein halbes Leben gebraucht, bis er in den Namen hineinpasste. Fand er, dass in dem Namen ein Widerhall lag, eine Fremdheit, eine Geschichte, die er sich nie verdienen konnte? Andere Menschen lebten in ihren Namen. Er fragte sich oft, ob der Name selbst dabei von Bedeutung war. Vielleicht würde er diese Distanz immer spüren, egal was für ein Name auf den Plastikkarten in seiner Brieftasche stand.
Er hatte die ganze Reihe für sich und saß genau in der Mitte, als es im Raum dunkel wurde. Welche Monde der Unruhe und Melancholie auch über seinen näheren oder ferneren Erfahrungen schweben mochten, an diesem Ort bestand die Chance, dass sich alles in Luft auflöste.
Flory hegte Vorstellungen, was seine Berufung betraf. In den frühen Jahren hatte sie sich ihm gelegentlich angeschlossen, zwischen Schauspielengagements, Jobs als Sprecherin, Verkaufsmessen und Hundeausführen, manchmal zu drei Filmen am Tag oder sogar vier, es war etwas Neues, eine Art inspirierter Irrsinn. Ein Film kann von dem Menschen, mit dem zusammen man ihn im Dunkeln anschaut, unterminiert werden, eine Kettenreaktion der Haltung, Szene für Szene, Aufnahme für Aufnahme. Das wussten sie beide. Sie wussten auch, dass sie nichts tun würde, um die Integrität seines Unterfangens infrage zu stellen – kein Flüstern, Anstoßen, Popcorntütchen. Aber sie übertrieb ihr Gespür für achtsames Vorausdenken auch nicht. Platt war sie nicht. Er war nicht dabei, das begriff sie, eine normale Freizeitbeschäftigung in eine teuflische Obsession zu verwandeln.
Was aber tat er dann?
Sie bot ihm Theorien an. Er sei ein Asket, sagte sie. Das wareine der Theorien. Sie entdeckte etwas Heiliges und Irres in seinem Unterfangen, ein Element der Selbstverleugnung, ein Element der Buße. Im Dunkeln sitzen, die Bilder verehren. Ob er katholische Eltern gehabt habe? Ob seine Großeltern jeden Tag in die Messe gegangen seien, noch vor Tagesanbruch, in irgendeinem Karpatendorf, und die Worte eines Priesters mit langem weißem Bart und goldenem Umhang wiederholt hätten? Und wo die Karpaten überhaupt lägen? Sie sprach spätnachts, meistens im Bett, wenn die Körper
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