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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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    Sollte das erotisch sein oder ironisch oder einfach nur eines der willkürlichen Päckchen Hirnschrott? Darüber nachzudenken machte mich nervös, und nach einer Weile ließ ich mich leise vom Ende des oberen Bettes hinabgleiten. Norman lag still da, er trug eine schwarze Schlafmaske. Ich zog michan, verließ unsere Stockbettwabe und ging durch die ganze Etage nach draußen in den Dunst vor Tagesanbruch. Der Wachposten am Lagereingang war beleuchtet, irgendjemand schob Dienst, um die Lieferwagen hereinzulassen, die mit Milch, Eiern und kopflosen Hühnern von den Farmen der Umgebung kamen. Ich nahm die Abkürzung zum alten Holzzaun und duckte mich zwischen den Latten durch, dann stand ich eine Weile da und starrte in die Dunkelheit, mir wurde mein Atem bewusst, er überraschte mich, als wäre er ein denkwürdiges Ereignis, das nur selten stattfand.
    Ich tastete mich an einer Reihe Bäume entlang, die einen Pfad säumten. Ich näherte mich den Verkehrsgeräuschen und erreichte die Brücke über den Highway in zehn oder zwölf Minuten. Die Brücke selbst war gesperrt, wegen ewig andauernder Reparaturarbeiten. Ich stand an einer Stelle etwa in der Mitte und beobachtete, wie die Autos unter mir durchrasten. Der tief stehende Halbmond sah in dem bleichen Dunst seltsam ertrunken aus. Der Verkehr war stetig, in beiden Richtungen, Pick-ups, Kombis, Vans, alle waren befrachtet mit der Frage Wer und Wohin, zu dieser frühen Stunde, und schickten in stetigem Schwall den unbenennbaren Klang ihrer Durchfahrt empor.
    Ich sah und hörte zu, ohne auf die Zeit zu achten, dachte an die Ordnung und Disziplin des Verkehrs, die selbstverständlich erschien, Fahrer, die Abstand hielten, fehlbare Männer und Frauen, Autos davor, dahinter, auf den Seiten, nachtfahrend, gedankendriftend. Warum geschah nicht alle paar Sekunden ein Unfall auf diesem Highway-Abschnitt, noch vor dem morgendlichen Berufsverkehr? Das dachte ich von meinem Posten auf der Brücke aus, aufbrandender Lärm,schiere Geschwindigkeit, die Nähe der Fahrzeuge, die einzelnen Fahrer, grundlegend verschieden nach Geschlecht, Alter, Sprache, Temperament, persönlicher Geschichte, Autos wie ferngesteuerte Spielzeuge, aber das da unten ist Fleisch und Blut, Stahl und Glas, das reinste Wunder, dass sie sich sicher auf ihre Geheimnis bleibenden Ziele zubewegten.
    Das ist die Zivilisation, dachte ich, der Schub des sozialen und materiellen Fortschritts, Menschen in Bewegung, die die Grenzen von Zeit und Raum testeten. Ungeachtet des schwärenden Gestanks nach verbranntem Treibstoff, der Verpestung des Planeten. Die Gefahr mag real sein, aber sie ist nur der Überzug, das unvermeidliche Furnier. Was ich gerade sah, war genauso real, aber es hatte die Wucht einer Vision oder vielleicht eines allgegenwärtigen Ereignisses, das im Blick und Geist des Betrachters als ein Blitz der Erleuchtung aufflackert. Man muss sie sich nur anschauen, wer immer sie sind, wie sie in unausgesprochener Einigkeit handeln, Anzeigen und Zahlen im Auge behalten, Urteilskraft und Geschick beweisen, Kurven nehmen, behutsam abbremsen, vorausdenken, die Aufmerksamkeit in drei oder vier Richtungen gleichzeitig verteilen. Ich lauschte dem Luftstoß, während sie unter mir durchfuhren, ein Auto nach dem anderen, wo Fahrer Sekundenentscheidungen trafen, Nachrichten und Wetter im Radio, unbekannte Welten im Kopf.
    Warum stoßen sie nicht ständig zusammen? Die Frage kam mir tiefschürfend vor, als der erste Tupfer Morgengrauen im Osten aufschien. Weder Auffahrunfall noch Seitenaufprall, warum? Es wirkte unvermeidlich, von meinem erhöhten Posten aus – Autos, die in die Leitplanke gedrängt oder in tödliche Überschläge gerammt wurden. Aber es kamen einfach immer weiter neue, scheinbar aus dem Nichts, Frontscheinwerfer,Heckscheinwerfer, so würde es den ganzen gerade anbrechenden Tag lang und bis in die folgende Nacht weitergehen.
    Ich schloss die Augen und lauschte. Bald würde ich ins Lager zurückkehren, mich in die Alltäglichkeit des Lebens dort hineinsinken lassen. Niedrigste Sicherheitsstufe. Es klang nach Kinderei, paternalistisch, peinlich. Ich wollte, wenn ich die Augen aufschlug, leere Straßen und gleißendes Licht sehen, Apokalypse, das donnernde Heranrauschen von ewas Unvorstellbarem. Aber ich gehörte in die niedrigste Sicherheitsstufe, nicht wahr? Die kleinstmögliche Menge, der geringstmögliche Einschränkungsgrad. Da war ich nun, ein Schwänzer, aber einer, der zurückkehren würde. Als ich

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