Der Engel Esmeralda
schließlich wieder hinschaute, hob sich der Morgendunst, der Verkehr war dichter geworden, Motorräder, Sattelschlepper, Familienautos, SUV s, die Fahrer da unten spähten aufmerksam, Lärm und Andrang, das unwiderstehliche Gefühl von Notwendigkeit.
Wer sind sie? Wo fahren sie hin?
Da fiel mir ein, dass ich vom Highway aus sichtbar war, ein Mann auf der Brücke, zu dieser Stunde, eine Silhouette, ein Mann, der dastand und schaute, und es wäre eine natürliche Reaktion der Fahrer, zumindest einiger, gewesen, nach oben zu schauen und sich zu fragen.
Wer ist er? Was macht er da?
Er ist Jerold Bradway, dachte ich, und er atmet die Abgase der freien Marktwirtschaft ein, auf ewig.
DIEHUNGERLEIDERIN
Als es begann, lange vor der Frau, wohnte er in einem Zimmer. Er hoffte nicht auf eine Verbesserung seiner Lebensumstände. Hier gehörte er hin, ein Fenster, Dusche, Kochplatte, gedrungener Kühlschrank, der im Bad geparkt war, improvisierter Wandschrank für spärliche Habseligkeiten. Es gibt eine Art Ereignislosigkeit, die der Meditation ähnelt. Eines Morgens saß er bei einer Tasse Kaffee und starrte ins Leere, als die Lampe an der Wand plötzlich knisterte und in Flammen aufging. Schadhafte Anschlüsse, dachte er gelassen und drückte seine Zigarette aus. Dann sah er den auflodernden Flammen zu und dem Lampenschirm, der Blasen warf und schmolz. Damit endet die Erinnerung.
Jetzt, Jahrzehnte später, saß er da und beobachtete eine andere Frau, diejenige, mit der er zusammenlebte. Sie stand an der Spüle und wusch ihre Müslischale ab, mit der seifigen bloßen Hand den Rand scheuernd. Sie waren mittlerweile geschieden, nach fünf oder sechs Ehejahren, wohnten aber immer noch zusammen, in ihrer Wohnung, zweiter Stock, ohne Fahrstuhl, mit ausreichend Platz, im Prinzip, und einem winzigen Kläffer nebenan.
Sie war immer noch schlank, Flory, und ein bisschen schief, erst jetzt verblassten allmählich die weichen braunblonden Töne in ihrem Haar. Am Türgriff des Wandschranks baumelteein BH von ihr. Er betrachtete ihn und überlegte, wie lang der wohl schon dort hing. Dieses Leben war langsam um sie her gewachsen, verlässlich vertraut, und es gab nicht viel zu sehen, das nicht bereits in früheren Stunden, Tagen, Wochen und Monaten zu sehen gewesen wäre. Der BH am Türgriff war eine Sache von Monaten, dachte er.
Er saß auf seinem Klappbett am anderen Ende der schmalen Wohnung, lauschte ihrem Geplauder, das sich um ihren neuen, befristeten Job drehte, Verkehrsmeldungen im Radio. Sie war Schauspielerin, beruflich arbeitslos, und nahm, was sich ihr bot. An den meisten Tagen war ihre Stimme der einzige lebendige Klang, dem er Gehör schenkte, ihr leichter, irgendwie flüssiger Tonfall mit einer Spur Tiefer Süden drin. Ihre Studiostimme aber war eine Kraftmaschine, lauter Ausbrüche und atemloser Mischmasch, und wenn es ging, wenn er zufällig da war, was tagsüber selten vorkam, schaltete er das Radio ein, den Nachrichtensender, bei dem sie alle elf Minuten ein kurzes Zeitfenster hatte und von dem Alltagschaos da draußen berichtete.
Sie sprach in fantastischem Tempo, Wörter und Schlüsselsätze gekonnt zu einem kodierten Format verdichtend, Unfälle, Baustellen, Brücken, Tunnel, Verspätungen, die in geologischer Zeit gemessen werden. Der BQE , der FDR , immer das biblische Bronx-Kreuz, zehntausend Fahrer mit abgestumpftem Blick, die darauf warten, dass die Tore sich auftun und das Meer sich teilen möge.
Jetzt sah er sie schräg auf sich zukommen, ihre Körpersprache drückte entschlossene Nachforschung aus mit dem nach links gekippten Kopf und dem Prüfblick, der sich stufenweise vorarbeitete. Sie blieb auf etwa anderthalb Meter Abstand stehen.
»Hastdu dir die Haare schneiden lassen?«
Er saß da und überlegte, fuhr sich dann mit dem Daumen über den Nacken. Ein Haarschnitt, das waren ein paar hastige Augenblicke an einem durchgeplanten Tag, denen man sich unterwarf, um sie nachher zu vergessen.
»Ich glaub schon, auf jeden Fall.«
»Wann?«
»Weiß nicht. Vor drei Tagen vielleicht.«
Sie trat einen Schritt zur Seite und kam wieder näher.
»Was ist mit mir los? Es fällt mir jetzt erst auf«, sagte sie. »Was hat er mit dir gemacht?«
»Wer?«
»Der Friseur.«
»Weiß nicht. Was hat er mit mir gemacht?«
»Er hat deine Koteletten kastriert«, sagte sie.
Sie berührte ihn seitlich am Kopf, gab sich anscheinend der Erinnerung an das hin, was dort gewesen war, mit immer noch feuchter Hand vom
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