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Der Engel mit den Eisaugen

Der Engel mit den Eisaugen

Titel: Der Engel mit den Eisaugen
Autoren: Mario Douglas & Spezi Preston , Mario Spezi
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eindeutig für die Schuldige gehalten.
    Lügen ist eine Eigenart und zugleich der schlimmste Makel der weiblichen Natur, der den Frauen gewiss direkt vom Teufel eingeimpft wird, genau wie es in vielen mittelalterlichen Texten geschrieben steht. Und genau wie Eva hatte Amanda Knox einen unschuldigen Mann ins Verderben gestürzt oder zumindest in Gefahr gebracht: Patrick Diya Lumumba, einen jungen Musiker aus dem Kongo, der zu besagtem Zeitpunkt bereits seit einigen Jahren in Perugia lebte und der Besitzer eines Pubs mit dem Namen
Le Chic
war, das hauptsächlich von Studenten besucht wurde und in dem die junge Frau aus Seattle ab und an arbeitete, um etwas Geld zu verdienen. Gegen Ende des sich hinziehenden letzten Verhörs hatte Amanda Patrick am Tatort auftauchen lassen und dadurch seine Verhaftung und die schreckliche Beschuldigung wegen Mordes verursacht.
    Ebenjenes Verhör, das in der Nacht vom 5 . auf den 6 . November ohne Anwälte oder Dolmetscher stattgefunden hatte, ist eins der großen »schwarzen Löcher« der Affäre.
    Das Problem dabei war Folgendes: Die Polizei und die ermittelnden Staatsanwälte sind vom italienischen Gesetz verpflichtet, alle Vernehmungen aufzuzeichnen, doch während des Prozesses verschwanden sowohl die Bandaufzeichnungen aus dem Verhör mit Amanda wie auch die aus dem parallel geführten Verhör mit Raffaele, und niemand konnte sich erklären, wie das passiert war.
    Ein seltsamer Vorgang, der natürlich unweigerlich Verdacht erregte. Doch in erster Linie hätten die Ermittler selbst Verdacht schöpfen müssen, da Amanda mit ihrer Lüge ja nicht nur Patrick Lumumba, sondern auch sich selbst an den Tatort versetzt und damit in Schwierigkeiten gebracht hatte. Und dies ohne ersichtlichen Grund.
    Schon vor dem Verhör stand sie unter Verdacht, ja mehr noch, sie war die Hauptverdächtige, was sie weder wusste noch je geglaubt hätte. Niemand hatte ihr etwas gesagt. Und niemand hatte ihr geraten, sich einen Anwalt zu nehmen.
    Wie es in solchen Fällen oft geschieht, übernahmen einige der Polizisten die Rolle »der Bösen« und andere die Rolle »der Guten«, womit man den Befragten abwechselnd beruhigt und bedroht, um ihn so richtig weichzukochen. Mit der jungen Amerikanerin hatten sie noch leichteres Spiel, denn Amanda befand sich erst seit wenigen Wochen in Perugia, und ihr bisschen Italienisch war miserabel.
    Anstatt einfach ihre Arbeit zu tun, verwandelte sich die Dolmetscherin Anna Donnino in eine Art Medium, das versuchte, Amandas Gemüt auszuforschen: »Wenn du dich nicht erinnerst, kannst du sagen, dass du ein Trauma erlitten hast. Ich helfe dir, dich zu erinnern. Ich helfe dir, zu verstehen, was du erlebt hast.« Der Amerikanerin wurde suggeriert, sie solle sich in so etwas wie einen Wachschlaf versetzen und die Bilder, die ihr dabei durch den Kopf gingen, beschreiben. Amanda jedoch bestand darauf, sich an nichts zu erinnern. Daraufhin, so berichtete sie, hagelte es Ohrfeigen und Beschimpfungen.
    Als sie später von jener Nacht erzählte – zu diesem Zeitpunkt befand sie sich noch in Italien –, tat sie das aus Vorsicht heraus eher beschönigend. Zumindest schien es so, wenn man sich die Erinnerungen von Raffaele vergegenwärtigte, der gleichzeitig im Nachbarzimmer verhört wurde. Der junge Mann sagte, er habe gehört, wie die Polizisten Amanda angeschrien hätten, wie die junge Frau weinte und schluchzte und mehrmals auf Italienisch »Hilfe! Hilfe!« schrie.
    »Du musst dich erinnern!«, brüllten die Beamten sie an. »Sag uns, wer bei dir war!«
    Später meinten die Polizisten selbst, Amanda und Raffaele seien wahrscheinlich schon etwas verwirrt ins Präsidium gekommen, da sie wohl einen Joint zu viel geraucht hätten. Für den Rest Verwirrung, so möchte man hinzufügen, hat dann die Polizei gesorgt.
    Wenige Tage später schrieb Amanda in ihr Tagebuch: »Ich war in meiner Zelle. Ich dachte nach und dachte nach und dachte nach, immer in der Hoffnung, mich zu erinnern, in der Hoffnung, das Richtige getan zu haben. Besorgt fragte ich mich, ob die Polizei vielleicht recht hatte. Vielleicht hatte ich den Mord an Meredith tatsächlich gesehen, und vielleicht war ich zu verwirrt, um mir etwas derart Tragisches in Erinnerung zu rufen. Und dann, wie eine Überschwemmung, fiel mir alles wieder ein, ein Detail nach dem anderen, bis zu dem Moment, in dem mein Kopf in der Nacht, in der Meredith umgebracht wurde, aufs Kissen gesunken ist und ich eingeschlafen bin. Ich habe geweint, ich
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