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Der Engel mit den Eisaugen

Der Engel mit den Eisaugen

Titel: Der Engel mit den Eisaugen
Autoren: Mario Douglas & Spezi Preston , Mario Spezi
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entgegen der gerichtlichen Anordnung (›Keine Kameras oder Reporter!‹) den Saal nicht verlassen haben. Der Einzige, den sie keines Blickes würdigt, ist ausgerechnet ihr Ex-Freund Raffaele, der vor wenigen Minuten mit blassem Gesicht und einem etwas verlorenen Ausdruck hereingekommen ist.«
    »Star«, »magnetische Blicke«, »Engelsgesicht«. Aber auch kalt und gleichgültig gegenüber diesem Jungen mit den romantisch langen Haaren und der kleinen Brille, die ihn wie einen Gelehrten aussehen lässt. Dem Jungen, der so schüchtern wirkt und bestimmt aus gutem Hause kommt. Man konnte deutlich sehen, dass er trotz allem noch in Amanda verliebt war. Wahrscheinlich hatte sie es nicht einmal bemerkt, doch die Reporterin aus Perugia, die Amandas Einzug in die Aula beschrieb, hatte das perfekte Porträt einer Hexe gezeichnet.
    Natürlich nicht das Porträt einer Hexe, wie Walt Disney sie in unsere Vorstellungswelt eingezeichnet hat – keine gebeugte, alte Frau mit langer Hakennase über einem zahnlosen Mund, hervorspringendem Kinn und dürren, verkrümmten Fingern –, sondern so, wie Hexen in alten Zeiten tatsächlich aussahen: jung, schön, verführerisch und vor allem eins: unabhängig.
    Was hatte Amanda nur getan, dass sie sich in den wenigen Monaten, die zwischen der Ermordung ihrer Freundin Mez und ihrem Auftritt im Gerichtssaal lagen, in eine Mörderin und gar in eine Hexe verwandelt hatte?
    Was war geschehen, dass ihr Name zum Synonym für eine hassenswerte Frau wurde, ein Name, der dem Lateinischen entstammt und den Modus eines Verbs abbildet, das Gerund von »amare« (»Amanda est«), und »die zu Liebende« bedeutet?
    In Wahrheit war wenig passiert. Während sie darauf wartete, verhört zu werden, hatte sie auf dem Flur des Polizeipräsidiums ein Rad geschlagen, einen akrobatischen Purzelbaum, bei dem man die Hände am Boden abstützt, die Beine durch die Luft wirbeln lässt und am Schluss wieder aufrecht steht. Nur zwei Tage nach dem Verbrechen war sie unbeschwert mit Raffaele zum Pizzaessen gegangen. Und noch schlimmer: Sie hatte mit ihrem Freund neckische Unterwäsche gekauft. Der Besitzer des Geschäfts, ein gesetzesfürchtiger und vor allem sehr neugieriger Mann, war zur Staatsanwaltschaft geeilt, um von diesem »überaus gravierenden Vorfall«, dessen Zeuge er geworden war, zu berichten oder, besser gesagt, ihn zur Anzeige zu bringen. Er war überzeugt, den Ermittlern wertvolle Informationen zu liefern, die dazu beitragen würden, die Verantwortlichen für den widerwärtigen Mord an Meredith Kercher dingfest zu machen. Das Paradoxe war, dass er sich keineswegs irrte: Seine Zeugenaussage wurde tatsächlich als überaus hilfreich eingeschätzt.
    Das Radschlagen, die Pizza in intimer Zweisamkeit und die Unterwäsche waren für die Ermittler aus Perugia und für einen Großteil der Öffentlichkeit die Indizien, die es gebraucht hatte, um Amanda auf die Schliche zu kommen und ihr wahres Wesen hinter der Maske der amerikanischen Studentin zu entlarven. Das Engelsgesicht mit der dämonischen Seele.
    Hatte es nicht ohnehin geheißen, hinter dem Mord an der englischen Studentin stecke ein satanisches Verbrechen, ein esoterischer Opferritus, etwas in der Art, das Gabriella Carlizzi ja sogar vorhergesehen hatte?
    Da war es doch geradezu offensichtlich, dass eine Hexe mit von der Partie sein musste.
    Amanda hatte also nicht viel tun müssen, um sich als das zu outen, was sie war: jung, schön, verführerisch, Amerikanerin und frei. Kurz, sie war alles, was ein Großteil der Leute, die ihre Geschichte so begierig verfolgten, gerne gewesen wäre, jedoch nie hätte werden können. Und wenn das, was man so sehr beneidet, unerreichbar ist, sollte man es besser eliminieren, um den Frust nicht spüren zu müssen. Man sollte es wie eine Hexe auf einem öffentlichen Platz verbrennen.
    Sicher, die Ermittler, die hinter dem Täter her waren, suchten keine Hexe, sondern nur eine Mörderin. Ihr vorgefasstes Bild entsprach jedoch genau dem einer Hexe, die ihrer Ansicht nach ein rituelles Verbrechen anlässlich irgendeines obskuren Hexensabbats begangen hatte.
    Eines jedoch hatte Amanda wirklich getan; etwas sehr Schlimmes, das Schlimmste, was eine Frau gemäß dem alten und immerwährenden Frauenhass tun konnte, der in biblischen Tempeln, ja schon im irdischen Paradies, seine Wurzeln hat, als Eva Adam und all seine Nachkommen ins Verderben stürzte. Amanda hatte gelogen. Allerdings wurde sie zu diesem Zeitpunkt schon ganz
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