Der Engel mit den Eisaugen
vertuschen. Zumindest so lange, bis er sich, vom Gefängnis zermürbt, hoffentlich entschließen würde, seine Freundin zu belasten.
Nein, der wirkliche Mörder, der echte Komplize der diabolischen jungen Frau aus Seattle musste wie ein Brutalo daherkommen, ja besser noch, die italienische Kultur und das Milieu Perugias sollten ihm fremd sein. Auf Amandas Handy fand sich noch der Nachweis eines »verdächtigen« Telefonats, das sie wenige Stunden vor dem Mord mit Patrick Lumumba geführt hatte. Und der war Ausländer und schwarz.
Am Nachmittag des 1 . November hatte Lumumba Amanda eine SMS geschickt, um ihr mitzuteilen, dass sie abends im
Le Chic
nicht gebraucht würde. Die amerikanische Studentin hatte ihm mit einem »See you later. Have a good night« geantwortet.
Überall auf der Welt hätte man diesen Satz mit einem einfachen »Ciao« oder »Auf Wiedersehen« übersetzt, auf das ein »schönen Abend« folgte. Doch nicht so in Perugia.
»See you later« wurde wörtlich übersetzt: »Wir sehen uns später.« Und das »Have a good night« wurde als Wunschäußerung angesehen, dass diese spezielle Nacht noch sehr, sehr lustig werden sollte. Laut den Ermittlern in Perugia hatten sich Amanda und Lumumba also für den Abend verabredet.
Ein »schwarzer Mann«, der Kinderschreck aus dem Märchen, passte hervorragend in die Szenerie dieses Mordes. Ein Immigrant, jemand, der nicht aus Perugia stammte, jemand, der wirklich ganz anders war. Einer der Polizeibeamten begann herumzuerzählen, dass in dem Zimmer, in dem Mez’ Leiche gelegen hatte, ja eigentlich sogar direkt in ihren Händen, eine »afrikanische Kappe« gefunden worden sei.
In keinem veröffentlichten Dokument und nirgends unter den beschlagnahmten Gegenständen tauchte diese berühmte Kappe je auf. Sie – oder vielmehr die Legende um sie – diente nur als Vorwand, um den Mörder unter afrikanischen Einwanderern zu suchen. Nicht durch Zufall hatte die Polizei vor der Verhaftung Lumumbas – also auch bevor Amanda seinen Namen ins Spiel brachte – einen gewissen Shaky ausführlich im Präsidium verhört, einen Marokkaner, der ein Geschäft in Perugia besaß. Sein Name war in einem abgehörten Gespräch zwischen der Studentin aus Seattle und Raffaele gefallen.
Aller Wahrscheinlichkeit nach hat die »afrikanische Kappe« nie existiert. Vielmehr war die von den Ermittlern angewandte Methodik – wenn man es denn so nennen kann – dieselbe wie die, die sie dazu bewog, sich auf Amanda zu konzentrieren und sie als Organisatorin »einer Orgie aus Blut und Sex« einzustufen, wie es in der englischen Presse hieß.
Niemand anders als Kommissar Fabio Giobbi vom
Servizio Centrale Operativo
der italienischen Polizei ( SCO ) enthüllte dem amerikanischen Fernsehsender CBS , was diese Methodik beinhaltete: Amanda Knox und Raffaele Sollecito seien, sagte er, Gegenstand einer »kognitiv-komportamentalen Untersuchung«, was auch immer das heißen mochte. Abgesehen davon, dass der Kommissar keine klare Vorstellung von dieser Art Untersuchung zu haben schien, muss noch hinzugefügt werden, dass keine Psychologen oder sonstige Experten hinzugezogen wurden, sondern nur schlichte Polizisten.
Giobbi im Wortlaut: »Es gab eine, sagen wir … nun, ich nenne es eine kognitiv-komportamentale Untersuchung, also eine Untersuchung, die sich auf die Beobachtung aller Beteiligten stützt sowie auf die psychosomatischen Reaktionen, die diese Personen während der fortschreitenden Ermittlungen gezeigt haben könnten. Bis zum selben Abend wurde mir von einer ganzen Reihe Verhaltensweisen berichtet, die … ich glaube, sie heißen Mezzetti und Romanelli (Merediths und Amandas italienische Mitbewohnerinnen, Anm. d. Verf.) an den Tag gelegt haben. Es war ein sehr viel moderateres Verhalten als bei Sollecito und Amanda im Polizeipräsidium, die beide etwas weniger von dem Vorfall betroffen zu sein schienen. Aber ich wiederhole: Ich ging davon aus, dass dies unter anderem sehr vom jeweiligen Charakter abhing.«
Auch andere Polizisten hatten offenbar einen Hang zur »kognitiv-komportamentalen Untersuchung« oder, anders gesagt, zu wilden Spekulationen, so etwa der Chef des Mobilen Einsatzkommandos von Perugia, Giacinto Domenico Profazio, den seine Intuition ebenfalls sofort auf Amandas und Raffaeles Spur brachte: »An dem Abend, an dem all die jungen Leute im Präsidium verhört wurden, habe ich gesehen, dass sich eine von ihnen im Wartezimmer auf die Knie der anderen gesetzt hat.
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