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Der Engel mit den Eisaugen

Der Engel mit den Eisaugen

Titel: Der Engel mit den Eisaugen
Autoren: Mario Douglas & Spezi Preston , Mario Spezi
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war so glücklich. Ich habe alles aufgeschrieben, woran ich mich erinnern konnte, und auch erklärt, weshalb ich zunächst so verwirrt war. Das ist es, was passiert ist, seit ich hier bin. Sie haben gelogen, als sie sagten, sie wüssten, dass ich zu Hause war, denn das kann nicht sein. ICH WAR NICHT ZU HAUSE , und deshalb können sie es auch nicht beweisen.«
    Auf denselben Seiten beschreibt die junge Frau, wie die Ermittler, die sie befragten, an ihre »Beichte« kamen: »In Wirklichkeit waren sie es, die mich verwirrt haben. Sie haben mich belogen, mich angeschrien. Sie haben mich die ganze Nacht wach gehalten, mich eine dumme Lügnerin genannt und mich geschlagen. Seltsamerweise bin ich noch nicht mal wütend. Der einzige Grund, warum ich eine Falschaussage gemacht habe, ist der, dass mich die Polizei unter Stress, unter Druck gesetzt und mir eine Gehirnwäsche verpasst hat.«
    Im Nebenzimmer lief es für Raffaele nicht wesentlich anders:
    »Wenn du versuchst, aufzustehen, prügle ich dich blutig, und dann bringe ich dich um. Ich lasse dich in deinem eigenen Blut liegen!«, schrie ein Polizist. Dann ließen sie ihn ein Protokoll unterschreiben, das sich so las, als hätte er gesagt, Amanda sei zur Tatnacht aus seiner Wohnung gegangen, um in die Via della Pergola zurückzukehren. In Wirklichkeit hatte Raffaele erklärt, er habe geschlafen und könne deshalb nicht wissen, was die junge Frau in dieser Zeit getan habe. Doch er wisse genau, dass sie das Haus nicht verlassen haben könne, denn da sie keinen Schlüssel zu seiner Wohnung gehabt habe, hätte sie klingeln müssen, um wieder zu ihm zurückzukommen. Doch dies wurde im Protokoll unterschlagen.
    In Raffaeles Beichte ging es nicht so sehr um ihn selbst als vielmehr um Amanda. Er war das Alibi der jungen Frau. Und genau das wollte die Polizei um jeden Preis demontieren.
    »Amanda ist eine Lügnerin. Vier Tage lang hat sie nie aufgehört zu lügen. Und vielleicht wird sie es auch weiterhin tun, das werden die kommenden Stunden zeigen.« So hieß es in einer Tageszeitung. Am nächsten Tag pflichtete ihr eine andere bei: »Raffaele Sollecito verhält sich genauso. Er ist ein Lügner, genau wie Amanda. Und genau wie Amanda gibt er zu, anfangs gelogen zu haben. (›Ich habe die Nacht mit ihr in meiner Wohnung verbracht.‹)«
    Für alle, die bei der Befragung nicht dabei waren oder nicht wenigstens die Gelegenheit hatten, Genaueres darüber zu erfahren, blieb lange unverständlich, weshalb die Amerikanerin eine derart schwerwiegende Beschuldigung gegen Patrick Lumumba erhoben hatte. Eine Beschuldigung, die ganz offensichtlich nicht der Wahrheit entsprach, wie zwei Wochen später eindeutig nachgewiesen werden konnte.
    Doch schon zuvor stand für die Polizei und Staatsanwalt Mignini fest, dass Amanda bis zum bitteren Ende in das Verbrechen verwickelt war.
    Am Tatort bedurfte es jedoch auch eines Mannes, eines zweiten Schuldigen, denn es war beinahe unmöglich, dass eine Frau, noch dazu eine so kleine, zierliche Person wie Amanda, Meredith Kercher festhalten und ihr gleichzeitig derart brutal die Kehle durchschneiden konnte. Für so etwas war ein Mann vonnöten, vor allem, da ja anscheinend ein Versuch sexueller Gewalt vorlag. Dies belegten die Kleider, die dem halbnackten Opfer vom Leib gerissen worden waren: Der Büstenhalter war zerrissen, der Verschluss lag abgetrennt auf dem Boden und war voller Blut.
    Da gab es also Raffaele, Amandas Freund, den sie knapp neun Tage zuvor kennengelernt hatte. Doch der junge Mann hatte weder die
physique du rôle
noch die entsprechende Persönlichkeit, dass man ihn als brutalen Killer hinstellen konnte, auch wenn sich die emsigen Medien in Perugia alle Mühe gaben. So war es ihnen beispielsweise gelungen, ein Foto vom vergangenen Karneval auszugraben, auf dem Raffaele, als verrückter Arzt verkleidet, ein blutiges Hackebeil in der Hand hält. Tagelang wurde das Foto immer und immer wieder gezeigt. Dennoch schien Raffaele zu höflich, zu gut erzogen und zu verliebt. Er konnte höchstens als Handlanger durchgehen, quasi als verlängerter Arm Amandas, der es gelungen war, ihn zu verhexen und ihn auf einen Komparsen zu reduzieren, der sich ebenfalls am Tatort aufgehalten hatte. In jedem Fall brauchte man ihn am Tatort – und sei es nur als Statisten –, denn er war Amandas Alibi, und nur er konnte es zum Einsturz bringen. Also war auch er ein Lügner, der bewusst nicht die Wahrheit sagte, um seine Schuld und die der jungen Frau zu
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