Der Engel mit den Eisaugen
Sünderinnen, auf die man alles Übel abwälzte.
Da die Existenz von Hexen also als Notwendigkeit erschien, sah man sie als gegeben an. Wer hier Zweifel äußerte, wurde als Ketzer geschmäht, der den gottgefälligen Werken der Obrigkeit Hindernisse in den Weg zu legen versuchte, weil er in geheimem Einverständnis mit diesen Frauen stand. Hätte man das Vergehen damals schon gekannt, hätte man solche unvorsichtigen Personen vermutlich ebenfalls wegen »versuchter Behinderung des öffentlichen Dienstes« angezeigt. Und vermutlich hätte man auch ihr Haus durchsucht, um zu belegen, dass sie Kontakt zu Hexen gepflegt hatten.
Um eine Frau der Hexerei zu bezichtigen, musste man vor allem einen Bericht vorliegen haben, der von einem Zeugen bestätigt wurde. Das war nicht nur eine Formsache. Die Machthaber wollten sich gerecht zeigen, als eine Obrigkeit, die die Regeln respektierte und die Legitimation besaß, die strengsten Strafen zu verhängen. Außerdem machten sie das Volk glauben, sie empfingen ihre Weisungen von oben – ein bewährtes Rezept.
Die Macht der Obrigkeit gründete sich also auf öffentliche Hexenverbrennungen und das Schafott.
Ein paar Jahrhunderte später, im Jahr 2007 , belegte die Untersuchung der Gegenstände, die die Spurensicherung in Merediths Zimmer eingesammelt hatte, dass keine Beweise gegen Amanda und Raffaele existierten. Und genauso wenig gab es welche gegen Patrick Lumumba. Er war durch die Aussage eines Schweizer Professors vollständig entlastet worden. Dieser hatte gegenüber Mignini am 11 . November erklärt, dass er am Abend des Verbrechens im Lokal des jungen Afrikaners gewesen sei und sich mit Lumumba bis zu später Stunde unterhalten habe. Dennoch dauerte es noch neun weitere Tage, bis sich der Staatsanwalt von Perugia entschloss, dessen Freilassung anzuordnen.
Migninis Frustration rührte nicht nur daher, dass er nun gezwungen war, auf einen Angeklagten zu verzichten, der sich sehr viel besser als Schuldiger geeignet hätte als der schüchterne Raffaele Sollecito. Hinzu kam noch die unweigerliche Schlussfolgerung, dass Amandas an und für sich schon seltsames Geständnis, von dem es keine Aufzeichnung gab, falsch sein musste.
Die Fakten helfen dabei, zu verstehen, was in jenen Tagen in der Staatsanwaltschaft geschah. Am 11 . November wurde dank der Zeugenaussage des Schweizer Dozenten Lumumbas Unschuld bewiesen, was in den Augen der Staatsanwaltschaft eine peinliche Lücke am Tatort hinterließ. Zwischen dem 18 . und 19 . November stellte sich heraus, dass sämtliche forensischen Untersuchungen allein auf Rudy Guedé hindeuteten, der zum Zeitpunkt des Mordes in Merediths Zimmer gewesen war. Der Ivorer war ein hervorragender Ersatz für den Kongolesen, und dies nicht nur, weil er dieselbe Hautfarbe hatte. Und so ließ Mignini Lumumba also am 20 . November nach Hause gehen, nachdem er mit Guedé das letzte Puzzleteil gefunden hatte.
An diesem Punkt war Amandas Geständnis jedoch nicht nur fehlerhaft, sondern völlig unbrauchbar, ganz besonders der Teil, in dem sie sich selbst bezichtigte, während des Mordes zugegen gewesen zu sein. Da von dem Geständnis jede Aufzeichnung fehlte, konnte es auch nicht vor Gericht verwendet werden.
Nachdem sich das Geständnis der »Hexe« in nichts aufgelöst hatte, blieb Mignini immer noch ein möglicher Augenzeuge: der Mörder Rudy Guedé. Klar, der »Baron« hatte bislang noch nicht einmal andeutungsweise durchblicken lassen, Amanda oder Raffaele in jener Nacht gesehen zu haben, sondern nur einen Unbekannten mit einer Kapuze, und den auch noch von hinten. Aber vielleicht konnte er sich ja, gewissermaßen, ein bisschen genauer erinnern. Und um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, war es notwendig, ihn adäquat zu befragen.
Wenn nur Rudy am Tatort gewesen war, wie es die Beweise unmissverständlich darlegten, hatte das jedoch noch ganz andere, gewichtige Folgen. Es war der Beweis, dass der Mord an Meredith Kercher, so grausam und brutal er auch gewesen sein mochte, nur ein banales Verbrechen war. Die Behauptung von Gabriella Carlizzi, es handle sich um ein weiteres blutiges Vergehen, das die Köpfe der obskuren und übermächtigen Sekte zu verantworten hatten, die auch die Morde des Monsters von Florenz angeordnet hatten, um Mignini zu treffen – diese »himmlischen Enthüllungen« lösten sich mit einem Schlag in nichts auf.
Ohne satanische Riten, die mit Halloween in Verbindung standen, ohne diabolische Orgien und
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