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Der Engel mit den Eisaugen

Der Engel mit den Eisaugen

Titel: Der Engel mit den Eisaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Douglas & Spezi Preston , Mario Spezi
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wenn er möglicherweise ein Informant gewesen ist.«
    Als man Mignini die »wissenschaftlichen« Analysen des biologischen Materials und der Gegenstände, die am Tatort beschlagnahmt worden waren, aushändigte, saßen Amanda Knox, Raffaele Sollecito und auch Patrick Lumumba schon seit Wochen im Gefängnis. In den Analysen hingegen tauchten sie gar nicht mehr auf, ja sogar der Schuhabdruck in Merediths Blut, der angeblich mit dem des Italieners »kompatibel« war, stammte jetzt »mit Sicherheit« von Rudy Guedés Schuh. Nichts wies mehr darauf hin, dass sich Amanda am Tatort aufgehalten hatte. Alles, auch das Fenster und der Stein, mit dem sich der Täter Zutritt ins Haus in der Via della Pergola verschafft hatte, deutete auf nur einen Mörder hin: Rudy Hermann Guedé.
    Die Erklärung, an der Rudy weiterhin festhielt, war jedoch nicht nur kindisch und unglaubwürdig. Sie wird seit jeher von Kriminellen ins Feld geführt, weshalb das FBI sie mit einem Akronym klassifiziert hat: S.O.D.D.I., oder auch: Some other dude did it. Ein anderer war’s. Rudy beharrte darauf, ins Bad gegangen zu sein und sich aufs Klo gesetzt zu haben, die Stöpsel seines iPod in den Ohren. Zu spät habe er Merediths Schrei gehört. Er behauptete, den Angreifer nur von hinten gesehen zu haben. Noch dazu habe dieser eine Kapuze aufgehabt. Allerdings korrigierte er sein »Geständnis« mehrere Male, und zwar so lange, bis es mit der Anklage übereinstimmte und er Amanda und Raffaele am Tatort erkannt haben wollte.
    Doch woher sollte dieser Mörder so schnell gekommen sein? Wie soll er hineingekommen sein? Und vor allem, weshalb hätte er Meredith umbringen sollen? Was für eine Art Mord hätte das sein sollen? Wie sollte man eine solche Geschichte glauben?
    Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit hatte im kleinen Perugia noch nie jemand den Ausdruck S.O.D.D.I. gehört, doch das war auch nicht nötig, um Rudys Geschichte fast schon als eine Beleidigung der Intelligenz derer erscheinen zu lassen, denen sie aufgetischt werden sollte. Sie – also die Staatsanwaltschaft und die Polizei – glaubten sie jedoch oder taten zumindest so. Nach den diversen Korrekturen, die der Ivorer an seiner Aussage vorgenommen hatte, konnten sie die Beweislage der forensischen Untersuchungen ignorieren, die Amanda und Raffaele entlastete. Statt die Beschuldigten auf freien Fuß zu setzen – und dies am besten unter vielen Entschuldigungen –, ließ man sie im Gefängnis.
    Wie schon zu Zeiten der Hexenverbrennungen, wo es natürlich genauso unmöglich war, die Beziehung der Beschuldigten zum Teufel nachzuweisen, gab es nur einen Weg, dieses Problem aus der Welt zu schaffen: indem man ein Geständnis bekam. Und zwar um jeden Preis. Entweder von der Hexe selbst oder von jemand anderem, der behauptete, an einem Hexensabbat oder sonst einer Teufelei teilgenommen zu haben. Ein Zeuge, den man mit Geld oder einer anderen Vergünstigung bestochen hatte.
    Man ging nicht besonders zartfühlend vor, um ans Ziel zu kommen, im Gegenteil: Folter war – sowohl in ihrer brutalsten als auch in ihrer subtilsten Form – an der Tagesordnung. Und wenn die arme Frau, der man so zusetzte, eingeräumt hatte, was die Inquisitoren von ihr hören wollten (und manchmal noch mehr), vergaßen sie genauso wie alle anderen, auf welche Weise das Geständnis zustande gekommen war. Niemand bezweifelte die absurden Geständnisse, in denen von Fleischeslust mit Dämonen die Rede war, von nächtlichen Flügen der Frauen zu einer Verabredung mit Satan persönlich, Hexereien mit seltsamen Mischwesen, Orgien mit Geschöpfen, die halb Mann und halb Ziege waren.
    Es war, als sei die Existenz der Hexen eine ganz und gar naturnotwendige Tatsache, die gar nicht erst bewiesen werden musste. Ihnen konnte die Obrigkeit die Schuld für eine schlechte Ernte, für eine Krankheit, die das Vieh befallen hatte, oder für die Geburt eines deformierten Kindes geben. Indem sie die Frauen entlarvten, bestraften, ja noch besser, sie mit einem reinigenden Feuer beseitigten, konnten die Machthaber zeigen, dass sie in der Lage waren, das Böse zu besiegen und die natürliche Ordnung der Dinge wiederherzustellen. Damit legitimierten sie einmal mehr ihre Macht. Die Vorstellung, das Böse könne zufällig und vielleicht auch ungerecht zuschlagen, die Guten könnten leiden und die Bösen ungeschoren davonkommen, wurde vollkommen ausgelöscht. Stattdessen wurden alle Unerklärlichkeiten des Lebens den Frauen angelastet. Sie waren die

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