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Der Engel mit den Eisaugen

Der Engel mit den Eisaugen

Titel: Der Engel mit den Eisaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Douglas & Spezi Preston , Mario Spezi
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natürlich nicht wissen, dass der junge Mann von der Elfenbeinküste hinter den Einbrüchen steckte. Doch schon wenig später, am Samstag, dem 27 . Oktober, nur fünf Tage vor dem Mord an Meredith, setzte sich die Staatsanwaltschaft Mailand mit ihnen in Verbindung. Die Chefanklägerin der lombardischen Hauptstadt, Maria Vulpio, teilte ihnen mit, vor einigen Tagen sei ein junger Farbiger, wohnhaft in Perugia, schlafend in einem englischen Kindergarten gefunden worden, wo er 2000  Euro und einen Fotoapparat entwendet habe. In seinem Rucksack habe man außerdem einen Laptop und ein Handy – wahrscheinlich beides gestohlen – sowie ein langes Küchenmesser gefunden. Da Rudy Guedé nicht vorbestraft war, wollte die Mailänder Staatsanwältin wissen, ob sie den Mann festnehmen oder zurück nach Perugia in die Obhut der Staatsanwaltschaft schicken solle. Der letzte Teil dieses Vorgangs erscheint geradezu unwahrscheinlich, denn welcher Staatsanwalt würde schon so handeln?
    Was genau passiert ist, weiß man nicht. In der glaubwürdigsten Version heißt es, irgendein Beamter aus Perugia, ein Staatsanwalt oder ein Polizist, habe ein Fax nach Mailand geschickt und darum ersucht, den Ivorer nach Perugia zu schicken. Doch von diesem Fax fehlt jede Spur. Sicher ist jedoch, dass Guedé von einigen Beamten an den Mailänder Hauptbahnhof gebracht, in einen Zug gesetzt und nach Hause geschickt wurde. Als freier Mann.
    Auch als er in Perugia ankam, ließ man ihn in Frieden, obwohl feststand, dass sowohl der Laptop als auch das Handy in seinem Rucksack von den Anwälten Brocchi und Palazzoli stammten. Doch nicht nur, dass er nicht festgenommen wurde, er wurde auch nicht strafrechtlich verfolgt. Das war überaus ungewöhnlich, denn wer in Italien zwei Einbrüche begeht und mit einem langen Messer durch die Gegend läuft, landet unweigerlich hinter Gittern, wenn auch nicht für lange Zeit.
    Wem also verdankte Rudy Guedé diese großzügige Behandlung, ohne die Meredith ihr schreckliches Schicksal nicht hätte erleiden müssen und ohne die es das vier Jahre andauernde Drama um Amanda Knox und Raffaele Sollecito nicht gegeben hätte?
    Wer also war Rudy Guedé?
    Ganz gewiss ein vom Schicksal benachteiligter junger Mann, der einiges durchlitten haben musste. Die Mutter verließ ihn direkt nach der Geburt. Als er fünf Jahre alt war, zog der Vater, Roger, mit ihm von der Elfenbeinküste weg. Er wollte nach Italien, um dort ein besseres Leben zu führen. Eine Schwester von ihm lebte in Lecco bei Mailand. Aus irgendeinem Grund, der mit seiner Arbeitssuche zu tun hatte, verschlug es ihn und seinen kleinen Sohn schließlich nach Perugia. Vom Vater, der einfach kein Glück hatte, so gut wie verlassen, wuchs der Junge unter denkbar ungünstigen Umständen auf. Die Einzigen, die sich um ihn kümmerten, waren die Lehrerinnen der Schule, die ihn ab und an mit zu sich nach Hause nahmen.
    Rudy wuchs praktisch auf der Straße auf und hatte, als er sechzehn wurde, keine Arbeit oder Ausbildung vorzuweisen. Da beschloss der Vater, ohne ihn nach Abidjan zurückzukehren. Zum zweiten Mal wurde der Junge brutal verlassen. Doch da geschah etwas, das wie ein Märchen anmuten würde, wenn nur das Leben die Zerstörung vergessen machen könnte, die manche Eltern in der Seele ihrer Kinder anrichten: Paolo Caporali, einer der reichsten Männer Perugias, selbst Vater zweier Kinder und obendrein äußerst großherzig, beschloss, den benachteiligten Jungen in seine Obhut zu nehmen. Ihm gehörte die Firma, die in allen Krankenhäusern Italiens Getränkeautomaten aufstellte. Er hatte Rudy in einer von ihm gesponserten Amateurmannschaft Basketball spielen sehen und fand ihn sehr talentiert. Caporali versuchte, ihn zum Lernen zu bewegen, und als das alles nichts fruchtete, besorgte er ihm eine Arbeit. Doch seine Bemühungen waren zum Scheitern verurteilt.
    Aus Rudy wurde ein orientierungsloser junger Mann, der am liebsten mit gleichaltrigen Ausländern verkehrte, jenen Studenten, die sich seiner Ansicht nach sehr viel öfter vergnügten, als über ihren Büchern zu schwitzen. Er wollte in ihre Discos und auf ihre Partys, er wollte Mädchen umwerben, am liebsten die aus dem Norden. Um überleben zu können, behalf er sich mit kleineren Einbrüchen, dealte ein bisschen, und hin und wieder nahm er einen Job an. Er verbrachte viel Zeit auf dem Basketballfeld der Piazza Grimana, zwischen der Università per Stranieri und der ein wenig unterhalb gelegenen Via della Pergola,

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