Der Engel mit den Eisaugen
Nacht des Mordes in Merediths Haus gewesen zu sein: »Ich bin mit ihr gegangen, und wir betraten zusammen das Haus. Sobald ich einen Fuß hineingesetzt hatte, bekam ich plötzlich fürchterliche Bauchschmerzen, und während ich auf dem Klo saß, habe ich Schreie gehört. Da stand ein junger Italiener, den ich nicht kannte.« Dann fügte er noch hinzu: »Er hat das Mädchen angegriffen, hat es erstochen und ist dann abgehauen.«
Hätte die präzise Zeugenaussage des Schweizer Professors nicht schon ausgereicht, um Patrick Lumumba zu entlasten, er wäre spätestens nach Rudys Auftritt am Tatort aus dem Rampenlicht der Öffentlichkeit entschwunden. Doch nicht nur das: Mit seiner Anwesenheit war bewiesen, dass das einzige vermeintliche Indiz gegen Raffaele Sollecito – der Abdruck des Nike-Schuhs in Merediths Blut – mit absoluter Sicherheit von dem Ivorer stammte. Und in der Tat preschten die Journalisten mit der Vermutung vor, Raffaele müsse ja nun bald aus dem Gefängnis entlassen werden.
Höchstwahrscheinlich hatten sie nicht bedacht, dass es ohne den schüchternen jungen Mann schwierig gewesen wäre, weiterhin an Amanda Knox’ Anwesenheit am Tatort festzuhalten.
Und so kam es, dass sich die Beamten der Spurensicherung in Perugia zum x-ten Mal ihre weißen Schutzanzüge überstreiften und zum Tatort zurückkehrten. Dabei war ihnen wohl entfallen, dass dort mittlerweile alles komplett auf den Kopf gestellt worden war, ja, das Durcheinander ging so weit, dass an der Außenmauer neben dem Eingang eine Matratze lehnte.
In dem Bericht der Spurensicherung nach der ersten Tatortuntersuchung am 2 . November hatte es geheißen: »Auf dem Fußboden sehen wir einen weißen Büstenhalter, der vor allem am rechten Träger und im oberen, äußeren Teil des Körbchens von einer blutigen Substanz durchtränkt ist. Das Gleiche zeigt sich auf dem nicht elastischen Stück des linken Trägers, der aus seiner ringförmigen Plastikhalterung gerissen wurde. Das hintere Stoffband mit den Verschlusshäkchen wurde entfernt (auf den Fotos mit › 7 -D‹ gekennzeichnet).«
Etwas einfacher ausgedrückt, fehlten bei dem BH also sein Plastikverschluss und das stützende Stück Stoff. Zwei Seiten weiter, es ging immer noch um die Nacht des 2 . November, schrieb die Polizei, sie habe den Verschluss auf dem Kissen unter Merediths linkem Oberschenkel gefunden. In der Akte, die alle Fotos enthält, die am Tatort gemacht wurden, hat der Verschluss die Nummer 140 . Im Zwischentext heißt es: »Teil des Stoffbands des Büstenhalters mit Verschlusshaken, das unter der Daunendecke gefunden wurde.«
Dieses Beweisstück, das man ausfindig gemacht und fotografiert hatte, wurde dann jedoch nicht mitgenommen und daher auch nicht analysiert. Eine Erklärung dafür fehlt.
Erst nachdem Rudy verhaftet und Lumumba entlastet und freigelassen worden war und erst nachdem Raffaele davon träumen konnte, aus dem Gefängnis freizukommen – erst am 18 . Dezember also, 46 Tage nach dem Verbrechen und unzähligen weiteren Bestandsaufnahmen –, nahmen die weißgekleideten Leute von der »Spurensicherung« den BH -Verschluss mit, um ihn analysieren zu lassen. Doch zu diesem Zeitpunkt befand sich das Beweisstück, wie sie es selbst schriftlich niedergelegt und dokumentiert hatten, nicht länger dort, wo es beim ersten Mal entdeckt worden war. Stattdessen lag es unter einem kleinen Teppich, fast zwei Meter weiter weg.
Wie konnte man auf die Idee verfallen, am Tatort fänden sich 46 Tage nach dem Mord noch nicht kontaminierte Beweisstücke? Wie konnte man eine der elementarsten Analyseregeln der Spurensicherung so demonstrativ ignorieren, eine jener Grundregeln, die in einem vom US -Justizministerium herausgegebenen Buch, dem
Handbook of Forensic Services,
aufgelistet sind und nicht nur vom FBI , sondern von allen Polizeien weltweit beachtet werden?
Und doch war es dieser Verschluss, der Raffaeles Hoffnungen zunichtemachte und bewirkte, dass er weitere vier Jahre in seiner Zelle bleiben musste – der BH -Verschluss und all das, was Dottoressa Patrizia Stefanoni, eine Biologin der Spurensicherung in Rom, anschließend entdeckt zu haben meinte. Das Stückchen Stoff, auf dem »keine mikroskopischen Spuren nachweisbar sind, die auf blutiges Material zurückzuführen wären« – so hatte es die Stefanoni selbst formuliert –, wurde nun doch zu einem Beweisstück mit DNA , die angeblich von dem Studenten aus Apulien stammte.
2011 , vier Jahre später,
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