Der Engel mit den Eisaugen
stellte sich während eines Berufungsverfahrens heraus, dass die Biologin Stefanoni alles falsch gemacht hatte und ihre Befunde einer neuerlichen Untersuchung nicht standhielten – und zwar einer unvoreingenommenen Untersuchung von Experten ganz anderen Kalibers, die von der Anklagevertretung beharrlich vermieden und in erster Instanz abgelehnt worden war. Fast schon sarkastisch erklärte eine der neu hinzugezogenen Expertinnen, Professoressa Carla Vecchiotti, im Gerichtssaal: »Wir haben Spuren gefunden, die in dem Fachbericht der Polizei nicht auftauchen … Diese Art Spuren unterliegen Interpretationen, die davon abhängen, wie man sie liest … Auf dem Verschluss findet sich auch meine DNA .«
Doch im Jahr 2007 wurde die Untersuchung der Biologin Stefanoni als wissenschaftlicher Beweis betrachtet. Mit dem Verschluss als neuem Beweisstück war es weiterhin möglich, sich den jungen Mann aus Apulien an den Tatort zu denken. Und mit ihm auch Amanda.
Es wäre falsch, allein Staatsanwalt Mignini das unbedingte Bestreben zuzuschreiben, die junge Frau aus Seattle auf der Anklagebank zu sehen. Dem Chefankläger allein wäre es nicht gelungen, sein Ziel zu erreichen. Die Polizei, die Experten der Spurensicherung, die übrigen Staatsanwälte, die zu dem Schluss gekommen waren, dass man Anklage gegen Amanda erheben müsse, der Richter, der die Verhaftung angeordnet hatte, die Richter der Haftprüfungskammer, die sie bestätigt hatten, und die erste Instanz des Geschworenengerichts, darunter auch sechs Schöffen, die den Schuldspruch unter dem Beifall eines Großteils der Stadt und dem Jubel der lokalen Presse verkündeten – all diese Leute müssen genauso gedacht haben. Und es wäre sicher auch falsch anzunehmen, all diese Personen seien Teil eines Komplotts, in dem jeder Einzelne böswillig agiert, gelogen, betrogen und Beweise manipuliert hätte. Es ist viel wahrscheinlicher, dass der Großteil von ihnen für eine Kultur steht, die schon seit Jahrhunderten zumindest in unserer Welt verschwunden schien und dennoch hier und da unversehens einzelne soziale Bereiche durchdringt. Dies geschieht in Regionen wie der um Perugia, die von jeher isoliert und abgeschieden im Zentrum der Halbinsel liegt und wo Kontakte mit der sich entwickelnden Welt beschränkter und schwieriger sind als anderswo. Und dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, halten sich die Bewohner solcher Orte für die Hüter von Werten, an denen sie andere messen.
Migninis Vorgehen im Prozess gegen Amanda Knox und Raffaele Sollecito spielte sich in einem relativ großflächigen Kontext ab, in dem Einmütigkeit herrschte. Es spielte sich innerhalb eines Gerichts ab, wo es darauf ankam, dass man zusammenhielt, sich unterstützte, nicht gegeneinander arbeitete – kurz: sich nach außen monolithisch präsentierte. Die Beziehungen zum Fernsehen und zur Lokalpresse, die sich als eine Art Kooperation, wenn nicht gar Komplizenschaft gestalteten oder schlicht auf Einschüchterung basierten, die man sich durch die Drohung mit Anzeigen zu verschaffen wusste – diese Beziehungen nun hatten der Staatsanwaltschaft auch die Unterstützung des weniger gebildeten Teils der Stadt gesichert. Und dieser Teil war geneigt, auch die unwahrscheinlichsten Theorien zu glauben – sogar solche, die das Verbrechen auf Satans direkten Einfluss zurückführten.
Auch im Jahr 2007 gab es in Perugia Leute, die »anders« waren, Leute, die misstrauisch beäugt wurden, da sie anders lebten. Und wie in alten Zeiten waren sie Opfer des volkstümlichen Aberglaubens und der Repressionen, die von den Mächtigen ausgingen. Vor allem Frauen gehörten dazu, besonders die unverheirateten. In einer Welt wie dieser ist eine Frau, die aus der Reihe tanzt und sich nicht in ihre von der Gesellschaft auferlegte Rolle fügt, von vornherein eine Bedrohung. Sie muss eliminiert werden.
Schon im 5 . Jahrhundert hatte der byzantinische Bischof Johannes Chrysostomos begonnen, weibliches Hexenwerk mit Sexualität in Verbindung zu bringen. Er behauptete: »Jede Hexerei rührt von fleischlicher Wollust her, und in Frauen ist sie unstillbar.«
Mignini hatte dieselben Worte gebraucht, um Amanda Knox zu beschreiben: Sie sei eine »dämonische, satanische Teufelin«, die »Alkohol, Drogen und ungezügelten Sex liebt«.
Um den Hexenprozess durchführen und die Ergebnisse der wissenschaftlichen Analysen – also die Realität – ignorieren zu können, fehlte zu diesem Zeitpunkt nur noch der Zeuge, der mit
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