Der Engel mit den Eisaugen
Fernsehsender und Blogs lieferten sich einen Wettstreit, wenn es darum ging, das Bild einer »eiskalten, von Sex besessenen Teufelin« zu zeichnen. Aus den sogenannten offiziellen Quellen ließ man Indiskretionen durchsickern, die der Treibstoff für Verleumdungen waren. Und alle diese Indiskretionen waren verzerrt, wenn nicht gar schlicht erfunden.
In den ersten zwei Monaten stellte sich auch die amerikanische Presse, die es sich bis auf einige Ausnahmen nicht gestattete, all das anzuzweifeln, was in Italien veröffentlicht wurde, gegen die junge Frau. Insbesondere die britischen Medien zeigten sich bereit, die Amerikanerin zu verurteilen, die eine Engländerin so grausam ermordet hatte.
Der Ton änderte sich nach der schockierenden Sendung von CBS , in der sich der Ermittler Paul Ciolino zu Wort meldete. Doch da war der Schaden schon angerichtet. Selbst heute, nach dem Freispruch von Amanda und Raffaele, sind nicht wenige Amerikaner weiterhin von der Schuld der beiden jungen Leute überzeugt.
Wer sich all die Schlagzeilen, Artikel und einschlägigen Publikationen aus jener Zeit vornimmt, von Amandas Festnahme bis zum Nachspiel im Jahr 2011 , sieht sich mit einem Lehrstück konfrontiert, das zeigt, wie jemand als Hexe verteufelt wird.
Am ersten Tag des Prozesses, als die Journalisten die beiden Angeklagten zum ersten Mal zu Gesicht bekamen, titelte ein Blatt: »Amanda-Raf, zwei Turteltauben, Blicke und Lächeln, eine Show in der Aula. Sie unverfroren, er verängstigt.«
Die Reporter ließen sich zu romanhafter Prosa hinreißen, die immer auf sie, auf Amanda, abzielte: »Früher hätte man gesagt, ihre Schönheit sei medusenhaft: Das Grauen der mörderischen Tat an Meredith und das Entzücken an ihrem unschuldigen Gesicht verschmelzen zu einem einzigen Bild. Aus Motiven, die eigentlich Abscheu erregen müssten – der Tod der Freundin, das vergossene Blut am Tatort –, erwächst das Bild einer befleckten und verunreinigten Schönheit, ein ganz neues Grauen.«
Ein anderer Journalist schrieb: »Ihr Tagebuch ist im Gegensatz zu dem von Laura Palmer aus
Twin Peaks
ein Bekenntnis ihrer Unbedarftheit: die letzte Maske einer diabolischen Frau oder verzweifelte Wollust eines unschuldigen Vamps?«
Von einer Fernsehserie zur nächsten: »Aus der Nähe wirkt Amanda wie Marissa Cooper aus
The O.C.
– ein Mädchen, das aufgrund von Alkoholmissbrauch und vielen anderen Schwierigkeiten, die auf ihre Kindheit und das gestörte Verhältnis zur Mutter zurückgehen, Probleme hat.«
Und natürlich wurde auch das Kino bemüht: »Die gleiche teuflische Naivität, das gleiche kalte Feuer, derselbe Typ Frau wie in vielen Filmen von Hitchcock, ein Vulkan mit einem verschneiten Gipfel.«
Sie musste die Rolle einer
dark lady
einnehmen: »Alles dreht sich um sie. Für den Staatsanwalt hat sogar der andere ›Mörder‹ von Meredith Kercher aus Liebe zu der Amerikanerin getötet, versklavt von so großer Schönheit.«
Und wieder diese Besessenheit von der Schönheit, fast so, als wäre sie ein Beweis: »Sie hat diese nicht wegzudenkende Schönheit, Amanda Engelsgesicht Knox: An jedem Verhandlungstag drängen sich die Fotografen zusammen, um ihr einen Ausdruck abzuluchsen, eine Grimasse, eine Pose, geeignet, von ihr zu erzählen.«
Die bekannte Journalistin Fiorenza Sarzanini stellte mit einem Buch sämtliche Kollegen in den Schatten:
Amanda und die anderen verlorenen Leben rund um das Verbrechen von Perugia.
Schon im Titel eine Verurteilung, lange bevor irgendein Urteil gesprochen worden war. In ihrem Buch wendet sich die Journalistin direkt an Amanda, als wäre sie eine gute Bekannte. Das Porträt, das sie von ihr zeichnet, fällt dementsprechend aus und strotzt nicht gerade vor Sympathie: »Als sie dich verhafteten, fanden sie drei Schreibblöcke in deiner Tasche. Sie sind dein Tagebuch. Niemand hat es je gelesen. Es enthält deine geheimsten Gedanken, deine Reflexionen, deine Phantasien.«
»Ein hellgrünes Heft«, wird im Polizeibericht präzisiert, der sämtliche beschlagnahmten Schriftstücke auflistet. »Es beginnt am 6 . August 2007 , noch vor deiner Ankunft in Perugia, noch vor jenen zwei Monaten, die, will man sie zurückverfolgen, intensiver als ein ganzes Leben anmuten. Es sind Seiten voller Notizen, die dazu dienen, deine komplexe Persönlichkeit zu beleuchten, deine Wünsche, deine Laster. Alkohol, Sex …«
Und natürlich musste sich auch die Visionärin Gabriella Carlizzi zu Wort melden. Sie, die Zeugin
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