Der Engel mit den Eisaugen
beiden berühmten Universitäten besuchen. Doch eine derartige Freiheit setzt auch Verantwortung voraus und diese ihrerseits ein gereiftes Bewusstsein.
Fehlt diese Voraussetzung, können gefährliche Situationen entstehen, vor allem dann, wenn Triebe nicht von gewissen Idealen gesteuert werden.«
Diese Überlegung, die ein idyllisch anmutendes Bild von den Verhältnissen in der Stadt Perugia zeichnet, mag juristisch wenig relevant anmuten. Doch so lautete die Vorbemerkung von Massimo Ricciarelli, dem Vorsitzenden des Haftprüfungsgerichts, zu jenem Urteil, mit dem er am 30 . November 2007 bestätigte, dass Amanda Knox und Raffaele Sollecito weiter im Gefängnis auf ihren Prozess warten mussten.
Abgesehen davon, dass in diesem idyllischen Bild von Perugia keine Drogendealer und -konsumenten vorkommen, obwohl es ja um die Stadt mit den meisten Drogentoten geht (wobei diese Drogentoten nicht etwa unter den ausländischen Studenten, sondern unter den Bewohnern Perugias zu finden sind) – abgesehen von diesen Tatsachen also ist es erstaunlich, dass ein Urteilsspruch nicht auf Fakten, sondern auf einer moralistischen Überzeugung gründet. Und diese basiert auf dem Vorurteil, die beiden Angeklagten ließen sich von Trieben beherrschen, die nicht »von gewissen Idealen gesteuert werden«.
Auf der anderen Seite behauptete das Urteil im selben Ton und ohne den Hauch eines Zweifels: »Amanda Knox stellt sich uns als eine recht unstete Person dar, die häufig wechselnden und spontan eingegangenen ›Verhältnissen‹ nicht abgeneigt war …« Als könnten diese Aussagen, selbst wenn sie wahr gewesen wären, auf eine Verwicklung in den Mord an Meredith Kercher hindeuten.
Ricciarelli verschonte auch Raffaele nicht, als er auf dessen Gefährlichkeit hinwies: »Raffaeles Persönlichkeit ist komplex und in gewissem Sinn beunruhigend.« Um seine Behauptung zu belegen, führte der Richter ein Beispiel an, das er für konkret hielt: »(Raffaele) hat sich nicht gescheut, sich in einer erschreckenden Pose fotografieren zu lassen, während er eine Art Hackebeil zückte.« Daraus folgert der Richter: »Gewalt übt auf Raffaele also eine echte Attraktivität aus.« Somit offenbarte sich die Gefährlichkeit des jungen Mannes auf einem Karnevalsfoto, das der Öffentlichkeit zur Meinungsbildung mehrere Male in Zeitungen und im Fernsehen präsentiert wurde.
Natürlich mussten in allen Urteilen und sämtlichen Gerichtsakten nicht nur Amanda, sondern auch die anderen Angeklagten auftauchen, also auch Raffaele und – zumindest während der ersten zwei Wochen – Patrick Lumumba. Dennoch stand von Anfang an fest, dass dies Amandas Geschichte werden würde, Amandas Verbrechen.
So sahen es auch Raffaeles Anwälte, die den kommenden Prozess als »Amandacentrico« bezeichneten, als auf Amanda fokussiert: »Raffaele Sollecito bleibt immer einen Schritt zurück, an der Leine, er ist höchstens ein Anhängsel.«
Schwer zu sagen, weshalb die zierliche, junge Frau aus Seattle – die ganz bestimmt attraktiv und nicht ohne Ausstrahlung ist, aber dennoch Lichtjahre entfernt vom Bild einer
dark lady
–, weshalb diese junge Frau ein solch morbides Interesse an dem Fall erregen und derart düstere Phantasien über perversen Sex hervorrufen konnte. Schwer zu sagen auch, wie es möglich war, dass man in ihr den weiblichen Archetypus sah, der Männer in den Untergang treibt, eine Frau, die zu einem Verbrechen anstiftete, zu dem jedes Motiv fehlte – kurz: wie es möglich war, in ihr die Summe aller üblen Gemeinplätze zu erblicken, die sich gegen Frauen richten.
Die Fakten, die im Mittelpunkt des Medieninteresses standen – eines gewissermaßen virtuellen, parallel geführten Prozesses in Zeitungen, Fernsehen und Internet –, diese Fakten fanden im eigentlichen Gerichtssaal starken Widerhall. Und das, obwohl sie bei dieser Sache eigentlich ziemlich irrelevant wirkten. Dennoch waren es die einzig gesicherten Fakten, die da lauteten: Amanda war jung, sie war schön, und sie war Amerikanerin.
Es schien fast, als würden die Argumente, auf welche sich die Anklage stützte und die Amanda quasi übergestülpt wurden, die Leute, aber auch die Informationsprofis kaum interessieren. Und diese Argumente wirkten ja auch vage, fragwürdig und alles andere als fundiert. Allein auf ihrer Basis konnte die Angeklagte nicht für schuldig befunden werden. Aber das war auch nicht nötig, denn sie war Amanda Knox. Deshalb war sie schuldig.
Die Zeitungen,
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