Der Engel mit den Eisaugen
»Gestern Nacht, kurz vor dem Zubettgehen, haben sie mich herunterkommen lassen, um mir einen weiteren Arzt vorzustellen, den ich bislang noch nicht gesehen hatte. Er hatte die Ergebnisse eines Tests, den sie mich hatten machen lassen und demzufolge ich HIV -positiv bin … Von da an ging in meinem Kopf alles durcheinander, zumindest letzte Nacht. Ich hatte entsetzliche Kopfschmerzen. Dies ist mit Abstand die schlimmste Erfahrung meines Lebens. Ich sitze für ein Verbrechen im Gefängnis, das ich nicht begangen habe, und ich könnte HIV -positiv sein. Ich will nicht sterben. Ich will heiraten und Kinder kriegen. Ich will alt werden. Ich will meine Zeit. Ich will mein Leben. Warum? Warum? Warum?…«
Da sie nicht verstand, wie sie sich infiziert haben sollte, zählte Amanda die jungen Männer auf, mit denen sie im Laufe der Jahre zusammen gewesen war. Es waren sieben Namen. Den Journalisten wurde hingegen mitgeteilt, Amanda habe seit ihrer Ankunft in Perugia – seit nicht mal zwei Monaten also – mit sieben Männern verkehrt.
Die Presse geriet außer Rand und Band: »Amandas Tagebuch: ›Ich habe Dutzende Verehrer.‹ Es folgt die Auflistung der jungen Männer, mit denen sie in Italien Sex hatte.«
Oder: »Die Liste der Jungs, mit denen ich Sex hatte, umfasst sieben Namen. Am Rand finden sich die Details der Beziehungen« – und das, obwohl diese Details im Tagebuch nirgendwo stehen.
Doch vermutlich war Amanda noch enttäuschter von Freunden und Bekannten, die sie als Mörderin verdächtigten und deren Urteile die Presse mit Vergnügen aufblies.
Merediths Freund Giacomo Silenzi, einer der drei jungen Männer, die im unteren Stockwerk der kleinen Villa in der Via della Pergola wohnten, erklärte gegenüber der englischen Boulevardpresse und dem Mailänder
Il Giornale:
»Wir saßen im Wartezimmer des Polizeipräsidiums, Merediths Freunde aus England waren am Boden zerstört. Ich war ebenfalls erschüttert, aber Amanda verhielt sich, als sei nichts geschehen, in ihren Augen lag keine Emotion.«
Filomena Romanelli, eine ihrer Mitbewohnerinnen, berichtete der
Daily Mail:
»Kaum war ich aus dem Zug gestiegen, kam die Polizei auf mich zu und brachte mich aufs Präsidium. Auch Amanda war dort. Sie umarmte mich und sagte, wie leid ihr der Vorfall tue. Dann stellte sie mir ihren Freund vor. Ihre Augen zeigten keine Anzeichen von Traurigkeit, und ich erinnere mich, dass ich mich fragte, ob sie etwas mit dem Mord zu tun haben könnte.« Filomena schreckte nicht davor zurück, noch hinzuzufügen: »Ich wusste, dass sich die beiden nicht verstanden, aber ich hätte nie gedacht, dass es so enden könnte.«
Alles, was Amanda sagte oder tat, wurde auf die gleiche Weise interpretiert. Denn sie war Foxy Knoxy.
Am Morgen des 13 . Februar 2009 beispielsweise, als Amanda den Saal des Schwurgerichts betrat, trug sie eine Botschaft am Körper, die sich vermutlich an Mignini, die Richter, die Journalisten und an all jene richtete, die auf Teufel komm raus eine Hexe in ihr sehen wollten: »All you need is love.«
Der Titel ihres geliebten Beatles-Songs war in großen roten Buchstaben auf ihr T-Shirt gedruckt. Wie ein kleines Mädchen, das weiß, dass es eine große Dummheit gemacht hat, ging sie mit verlegenem Lächeln und gesenktem Blick zu ihrer Bank. Hin und wieder schaute sie sich um, um zu sehen, welche Wirkung ihr Einfall erzielt hatte.
Es war die naive Geste einer sehr jungen Amerikanerin, deren Wurzeln in einer Pop-Kultur liegen, wo ein Satz von John Lennon die gleiche Autorität hat wie einer von Immanuel Kant. Es war leichtfertig, aber dennoch war es eine Forderung nach Liebe, nach Verständnis und Empathie. Es war die Aufforderung, einen Moment innezuhalten und nachzudenken, zu begreifen, weshalb sie nicht die sein konnte, die viele auf so irrationale Weise in ihr sehen wollten.
Doch sie erreichte genau das Gegenteil: Wenn Amanda von Liebe sprach – und sei es nur durch ein T-Shirt und einen Rock-Song –, dann konnte es sich nur um profane Liebe handeln, um Sex, um eine sehr konkrete, um nicht zu sagen »schmutzige« Angelegenheit. Ihre Botschaft wurde als Provokation gedeutet, als das unkontrollierbare Bedürfnis einer eingefleischten Narzisstin, die, nur um im Scheinwerferlicht zu stehen, bereit war zu ignorieren, dass der tragische Tod einer jungen Frau der schreckliche Grund für das Medieninteresse an ihr war. Kurzum, sie scherzte, zog eine Riesenshow ab und verhöhnte die tote Mez.
Am nächsten Tag
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