Der Engel mit den Eisaugen
gekommen war, als also die drei jungen Leute, Amanda, Raffaele und Rudy, vor den Richter des Zwischenverfahrens traten, der entscheiden musste, ob es zu einem Prozess kommen würde, trennte sich der Weg des Ivorers auf einmal von dem der beiden anderen. Seine Anwälte Nicodemo Gentile und Walter Biscotti hatten beantragt, dass man ihren Klienten in einem abgekürzten Verfahren verurteilte. Das Urteil sollte also noch während der Sitzung ohne weitere Zeugen und nur auf Basis dessen verkündet werden, was die Anklage zusammengestellt hatte.
Diese sehr spezielle Art Prozess – auf den jeder Angeklagte Anspruch hat, wenn er will – wird vor allem dann gewählt, wenn kein Zweifel an der Schuld besteht und man daher direkt zur Verurteilung übergeht. Der Vorteil liegt in einer Reduzierung des Strafmaßes auf ein Drittel. Im Falle einer lebenslangen Gefängnisstrafe wird diese also in dreißig Jahre Haft umgewandelt.
Doch Guedé hatte nicht nur seine Verantwortung abgestritten, er hatte sich auch als unschuldig bezeichnet. Daher muss seine Wahl erst einmal seltsam erscheinen. Denn entgegen den Behauptungen seiner beiden Verteidiger war es offensichtlich, dass er nicht auf einen Freispruch hoffen konnte. Angesichts der Schwere seines Verbrechens gab es keine Alternative zur lebenslangen Gefängnisstrafe. Doch mit Hilfe des abgekürzten Verfahrens konnte Guedé auf dreißig Jahre hoffen, sofern er zusätzlich zum Mord keines weiteren Verbrechens für schuldig befunden würde. Nun beschuldigte man ihn aber auch, die fehlenden 300 Euro aus Merediths Schublade gestohlen zu haben. Er wiederum behauptete, Amanda habe sie genommen. Wäre er des Diebstahls – oder auch nur der Beihilfe zum Diebstahl – für schuldig befunden worden, er hätte kein Recht auf ein abgekürztes Verfahren gehabt.
Am nächsten Tag berichtete
La Nazione
vom Ausgang der Verhandlung des Zwischenverfahrens: »Perugia – Verurteilung zu dreißig Jahren Gefängnis für Rudy Guedé und der Eröffnungsbeschluss gegen Amanda Knox und Raffaele Sollecito. So lauten die Entscheidungen des Richters Paolo Micheli nach mehr als elf Stunden in nichtöffentlicher Verhandlung.
Guedé, der ein abgekürztes Verfahren erhielt, wurde des Mordes an der englischen Studentin Meredith Kercher für schuldig erklärt, der sich am 2 . November letzten Jahres in dem kleinen Haus in der Via della Pergola ereignet hatte. Der Tatbestand sexueller Gewalt kam erschwerend hinzu.«
Der 4 . Dezember war der erste Verhandlungstag im Hauptverfahren gegen Raffaele Sollecito und Amanda Knox. Der Richter des Zwischenverfahrens behielt sich die Entscheidung zum Antrag der Anwälte auf Hausarrest vor. Raffaele Sollecito und Amanda Knox würden sich nicht nur wegen Mordes und sexueller Gewalt an Meredith Kercher verantworten müssen, sondern auch wegen Diebstahls von 300 Euro und zweier Kreditkarten, die der getöteten Engländerin gehört hatten.
Rudy Guedé hingegen wurde nicht wegen Diebstahls verurteilt. Der Diebstahl wurde allein den beiden anderen Angeklagten zur Last gelegt.
»Gerechtigkeit ist geschehen.« Das waren die Worte von Merediths Eltern unmittelbar nach der Urteilsverkündung. Sie waren einige Minuten vor Verlesung des Urteils im Gerichtssaal erschienen und hatten den Urteilsspruch des Richters gefasst angehört.
An diesem Tag verbrachten Amanda und Raffaele elf Stunden in einem vergitterten Raum unter der Treppe des Gerichts, von Ängsten verfolgt und mit nur einer Hoffnung im Herzen: »Heute Abend kommen wir hier raus.« Hier wieder der Bericht der Tageszeitung
La Nazione:
»Für Amanda, Rudy und Raffaele bedeutete das Warten auf das Urteil des Richters den längsten und auch schwierigsten Tag, seit Meredith Kercher vor einem Jahr ermordet wurde und man die drei beschuldigte, für die absurde Tat verantwortlich zu sein. Elf Stunden haben sie mit ihren Ängsten und ihren Hoffnungen allein ausgeharrt, und vielleicht haben sie seit Beginn des Ganzen zum ersten Mal wirklich begriffen, dass ihr Leben nie wieder so sein wird wie vor dem 2 . November.«
In den vorangegangenen Tagen hatten die drei jungen Leute aktiv an der Verhandlung teilgenommen. Immer wieder hatten sie ihre Anwälte um Erklärungen gebeten und jedem Einwurf aufmerksam zugehört.
Heute jedoch war es anders: Auf ihren Gesichtern hatte die Angst die Oberhand gewonnen. Und als sich der Richter ins Beratungszimmer zurückzog, beschlich sie Angst. Allein in ihren Zellen, weggesperrt und isoliert
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