Der Engel mit den Eisaugen
von der Außenwelt, suchten sie bei denen Trost, die sie als Einzige noch aufsuchen durften: bei ihren Anwälten und den Beamten der Gefängnispolizei.
»Ich hoffe nur, hier rauszukommen, es ist mir egal, wo sie mich hinschicken, das einzig Wichtige ist, dem Gefängnis zu entfliehen«, gestand Raffaele Sollecito und offenbarte damit all seine Furcht. Sorge und Angst zeichneten sich auch auf Amanda Knox’ Zügen ab. »Heute Abend komme ich hier raus«, sagte sie immer wieder, den ganzen Tag lang, doch mehr, um sich selbst Mut zuzusprechen als aus Überzeugung. Sie sang die vertrauten Beatles-Songs vor sich hin, die sie während der schwierigsten Momente der Untersuchungen begleitet hatten.
Auch Rudy Guedé, von allen dreien der am meisten Kompromittierte, musste allein mit seinen Ängsten fertig werden. Wie die anderen hatte auch er die Zeitung gelesen, hatte etwas gegessen und auf den Richterspruch gewartet, der sein Schicksal für immer verändern würde.
Gewiss, der Richter hatte Guedé wegen »Beihilfe« zum Mord verurteilt. Doch dann wurde Guedé vom Vorwurf des Diebstahls freigesprochen – ein Detail, das damals wenig beachtet wurde, das jedoch deutlich offenbart, welchen Vorteil ihm die Zusammenarbeit mit der Staatsgewalt und die Belastung von Amanda und Raffaele verschafft hatten.
La Nazione
schrieb: »Der Freispruch vom Delikt des Diebstahls, der stattdessen Amanda und Raffaele angelastet wurde, hat dem Ivorer die von der Staatsanwaltschaft geforderte lebenslängliche Freiheitsstrafe erspart. Hätte der Richter es Rudy zur Last gelegt, hätte daraus eine lebenslängliche Freiheitsstrafe mit Einzelhaft resultiert.«
Nachdem Rudy den ersten Nachlass bekommen hatte, bereitete er sich darauf vor, in Berufung zu gehen. Dank des Freispruchs vom Diebstahl hoffte er auf eine neuerliche Reduktion der zu verbüßenden Gefängnisstrafe.
Er musste nur ein Jahr warten. Am 18 . November 2009 , während der erste Prozess gegen Amanda und Raffaele in vollem Gang war, trat Rudy vor die Richter des Berufungsgerichts, um erneut einen Strafnachlass zu erreichen, und diesmal einen sehr viel substanzielleren. Wieder war es, als sei ein Regisseur am Werk, der die handelnden Personen wie Schauspieler nach seinen Anweisungen agieren ließ: Erst nachdem Guedé seine Anschuldigungen gegen Amanda und Raffaele bezeugt und bestätigt hatte, die im Gerichtssaal gerade in erster Instanz verurteilt wurden, erhielt er sein neues Urteil. Es war vollkommen klar, dass Guedé nicht zögern würde, seinen Beitrag zu leisten, um die beiden zu 25 und 26 Jahren Gefängnis verurteilen zu lassen. Wenige Tage später erhielt er das Urteil der Berufungsrichter: vierzehn Jahre Gefängnis erlassen. Einfach ausradiert. Lediglich sechzehn Jahre für den Mord an Mez.
Die Anwälte der Familie Kercher, Francesco Maresca und Serena Perna, brachten die Überraschung und die Bitterkeit ihrer Klienten zum Ausdruck: »Zum neuen Strafmaß eine Überlegung: Das Leben einer jungen Frau wäre also mit sechzehn Jahren vergolten?«
Es ist unklar, ob die Kerchers über die Folgen im Bilde waren, die ein so leichtes Strafmaß mit sich brachte und die von
La Nazione
anschaulich verdeutlicht wurden: »Jetzt, da die Strafe um die Hälfte reduziert wurde, wird Guedé dank des Gozzini-Gesetzes (eine Bestimmung, die bei guter Führung des Inhaftierten weitere Strafnachlässe vorsieht; Anm. d. Verf.), dank vorzeitiger Haftentlassung und dank der Möglichkeit, Arbeit außerhalb des Gefängnisses anzunehmen, nach vier bis fünf Jahren auf freiem Fuß sein.«
Nach der tröstlichen Verurteilung zu nur sechzehn Jahren wegen Mordes verließ der Ivorer die Vorbühne wie ein Schauspieler, der seine Rolle zu Ende gespielt hat. Er zog sich hinter die Kulissen zurück, bis er fast ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwand.
Er ließ Amanda und Raffaele allein auf der Bühne dieser schrecklichen Komödie zurück. Im Scheinwerferlicht blieb Amanda, als wäre die ganze Bühne nur für sie da.
Amanda, immer wieder Amanda und nur Amanda.
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Kapitel 8
D ie Strafkammer des Gerichts von Perugia, die sich im Beratungszimmer zusammengefunden hat … hält fest: Perugia ist eine Stadt, die sich ihrer langen, gefestigten kulturellen Tradition, ihrer intakten Gesellschaft und ihrer Gastfreundschaft rühmt. Ihre Plätze, ihre Straßen und Lokale hallen wider vom fröhlichen, multikulturellen Lärm einer Vielzahl von Studenten jeden Alters und jeder Herkunft, welche die
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