Der Engel mit den Eisaugen
Unfähigkeit, klar zu argumentieren und eine glaubhafte Version der Ereignisse zu präsentieren, bewiesen. Genau das also, was man von einem Menschen seines Schlags erwartet.«
Frank stand auf, schlenderte über die Piazza und fragte die Umstehenden nach dem Namen des Mannes. »Antonio Curatolo«, antworteten sie ihm. Er sei aus Kampanien und habe ein dickes Strafregister. Der Mann würde den Drogenhandel auf der Piazza steuern, und niemand würde ihn dabei stören, denn im Grunde belästige er ja niemanden.
Da Frank nun über die Biographie des Mannes im Bilde war, ging er zu ihm zurück. Dieser bekam daraufhin fast so etwas wie eine Panikattacke. Er verbarg sein Gesicht hinter einer Ausgabe des
Giornale dell’Umbria,
zog eine Münze aus der Tasche und rief von einer Telefonzelle aus den Zeitungsdirektor an.
»Der aufgeregte Totò« – so hatte Sfarzo den Mann getauft – »bat seinen Sponsor, sofort zu kommen, ein Journalist sei ihm auf die Schliche gekommen …
Als der andere ihn fragte, wer der Journalist sei, antwortete Totò: ›Frank Capra‹ …«
»Und so«, schrieb der Blogger, »wurde der große Scoop in nur wenigen Minuten demontiert.«
Doch Frank war noch nicht zufrieden, obwohl er aus erster Hand von einem Reporter des
Giornale dell’Umbria
erfahren hatte, dass sich einer von ihnen mit Curatolo in Verbindung gesetzt und ihn in die Redaktion gebracht hatte, wo er die sensationelle Neuigkeit enthüllen sollte. Im Gegenzug hatte er ein paar abgetragene Schuhe bekommen. Am nächsten Tag war Frank mit einem Fotografen zur Piazza Grimana gefahren, der von weitem ein paar Aufnahmen von Curatolo machte.
Frank schrieb dazu: »Er hat mein Gesicht wiedererkannt, wahrscheinlich, weil er mich erst am Vortag gesehen hatte, doch er hatte vergessen, wer ich war und weshalb ich mit ihm hatte sprechen wollen. Und so wickelte er in aller Seelenruhe seine Geschäfte vor mir ab, als wäre ich ein alter Freund. Während er seinen Stoff vertickte, beantwortete er meine Fragen nach Amanda und Raffaele, ob er sie gesehen hätte. Er erklärte mir, seine Version sei von jemand anderem bezeugt worden: ›… von meinem Meister Jesus.‹
Er war ganz offensichtlich verrückt, doch ich merkte, dass er seiner Umwelt gegenüber sehr offen und aufmerksam war. Und alle waren nett zu ihm. Er bedachte jedes Anliegen und bot dem Betreffenden gleich eine Lösung an oder versprach zumindest, bald mit einer aufzuwarten.«
»Was auch immer ihr also braucht«, lautete Franks Schlussfolgerung, »geht zu Totò, und Totò wird euch helfen. Einen Schlafplatz? Einen Zeugen für einen Autounfall? Oder für einen Mord? Für einen Scoop? Ihr müsst nur zu Totò … Er wird es euch bezeugen, er ist so gutherzig, der Totò …«
Antonio Curatolo wurde Staatsanwalt Migninis Zeuge vor dem Schwurgericht.
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Kapitel 10
D ie Gesichter von Toten sind ausdruckslos. Nur im Film ist das anders – und in Perugia. In der Realität aber wirken nach dem Tod natürliche Prozesse. Die Muskeln erschlaffen. Und jede Mimik erforderte ja ein lebendes Hirn.
Das Schlussplädoyer von Staatsanwalt Mignini, das er in den Sälen hielt, wo schon die erstinstanzlichen Prozesse gegen Amanda und Raffaele stattgefunden hatten, war eine Rekonstruktion der Ereignisse, die sich in der Nacht vom 1 . auf den 2 . November abgespielt hatten. Dabei sprang ihm seine Kollegin Manuela Comodi immer wieder helfend zur Seite. Dieses Plädoyer nun wich schon in den ersten Sätzen von der Realität ab.
»Ich erinnere mich noch an die weit aufgerissenen Augen der jungen Frau. Das Bild hat sich mir eingebrannt, und ich werde mich mein ganzes Leben daran erinnern.« So also begann der Staatsanwalt sein Plädoyer vor dem Berufungsgericht in Perugia.
Anhand der Ausführungen der beiden Anklagevertreter in dem Zwischenverfahren und in den beiden später folgenden Prozessen in erster Instanz sowie vor dem Berufungsgericht kann man genau nachvollziehen, was sich ihrer Ansicht nach zugetragen hat. In gewissem Sinne ist es, als würde man sich einen Film ansehen.
An der Theorie der Seherin Gabriella Carlizzi, es handle sich um ein satanisches Verbrechen, hielten sie nur bei ihrem ersten Auftritt fest, als Mignini während des nichtöffentlichen Plädoyers sagte: »Amanda und Raffaele wollten Meredith in der Halloween-Nacht aufsuchen. Dies erklärt ihren von einem Zeugen geschilderten Beobachtungsposten auf den Stufen, von wo aus man das Haus in der Via della Pergola gut
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