Der Engel mit den Eisaugen
überblicken kann.« Um dem Ritus zu huldigen, seien die Mörder auf die Nacht des 1 . November ausgewichen – »für wenige Stunden noch die Nacht von Allerheiligen«.
Der Richter des Zwischenverfahrens, der die Mordanklage gegen Amanda und Raffaele befürwortete, fegte diese Theorie mit einer fast schon sarkastischen Antwort vom Tisch, indem er die Theorie als »gelinde gesagt, phantasievoll« bezeichnete. Dies muss Mignini wie eine Aufforderung erschienen sein, von seiner Version abzulassen, die nicht nur abwegig war, sondern von der seriösen Presse sicher nicht gut aufgenommen worden wäre. Also sprach die Anklage nicht länger von satanischen Riten.
Blieb immer noch das sexuelle Tatmotiv, die Orgie, die Vergewaltigung, die sich unter der Regie der jungen Frau abgespielt haben sollte.
Hier nun die definitive Rekonstruktion des Verbrechens, an der Mignini und Comodi festhielten – und das, obwohl ihre Zeugen unglaubwürdig geworden waren und Beweise aus vertrauenswürdigeren Gutachten vorlagen, die die bisherige Anschauung des Tathergangs widerlegten:
»Amanda Knox«, erklärte Mignini, »hegte einen tiefen Hass gegen Meredith Kercher. Am Abend des 1 . November 2007 war für die junge Amerikanerin der Moment gekommen, sich an dieser Zicke zu rächen.«
Dem Staatsanwalt zufolge hatte Knox Rudy Guedé treffen wollen – zunächst allein, wahrscheinlich wegen ihres gemeinsamen Drogenkonsums. Dann jedoch sei auch Raffaele Sollecito zu ihnen gestoßen. Zu dritt seien sie in die Via della Pergola gegangen, wo sich Meredith aufgehalten habe.
»Dann«, fuhr der Staatsanwalt fort, »entzündete sich eine Diskussion, in der es um Geld ging, und wahrscheinlich war Meredith mit Rudys Anwesenheit nicht einverstanden. Man versuchte, Meredith in ein brutales Sexspiel zu verwickeln. Es war der erste Abend, an dem die junge Engländerin allein zu Hause war, und endlich hatte Amanda Gelegenheit, sich an der jungen Frau zu rächen, die sich nur mit ihren englischen Freundinnen abgab und ihr immerzu Vorwürfe wegen ihrer mangelnden Reinlichkeit machte. Merediths Leidensweg begann.«
Laut der Rekonstruktion des Staatsanwalts hatte sich der Streit in Merediths Zimmer abgespielt. Mignini behauptete, es sei zu Gewalt und einem »Sexspiel« gekommen, wobei sich die drei wie »wildgewordene Furien« aufgeführt hätten. Amanda Knox habe den Kopf des Opfers gegen eine Wand geschlagen und versucht, sie zu erwürgen. Sie habe Meredith mit einem Messer am Hals treffen wollen, während Sollecito ein anderes Messer in der Hand hielt.
Letzterer, behauptete Mignini weiter, habe der englischen Studentin den BH zerrissen, während Guedé sie sexuell missbrauchte. Nachdem der Ivorer das Bad aufgesucht habe, habe er an dem Spiel teilgenommen, weil auch er um die junge Amerikanerin buhlte. Es sei ein Wettbewerb gewesen, bei dem es darum ging, ihr zu gefallen. Sie wollten Meredith in einem Sexspiel unterwerfen. »Du warst immer so scheinheilig«, rezitierte der Staatsanwalt, als sei er selbst dabei gewesen, »jetzt werden wir es dir zeigen.« Das seien Amandas Worte gewesen. Doch die englische Studentin habe sich zur Wehr gesetzt.
In dieser Rekonstruktion ist Amanda die unbestrittene Protagonistin, der perverse Kopf, der das diabolische Spiel geplant hat, die teuflische Regisseurin, die die beiden Jungs auf der Bühne anleitet. Sie benutzt den »armen Schwarzen« Rudy Guedé als ihren Phallus und Raffaele Sollecito als einen entbehrlichen Gehilfen. Sie selbst schlägt den Schädel des Opfers gegen die Wand und schneidet ihrer »scheinheiligen« Freundin die Kehle durch. Sie ist die eiskalte Organisatorin, die sich nach vollbrachtem Massaker um die Beseitigung von Spuren kümmert, die Irreführung der Polizei vorbereitet und Patrick Lumumba beschuldigt. Ironisch merkte Mignini an, dass es sich bei Lumumba – welch ein Zufall – ebenfalls um einen Schwarzen handelte. Damit implizierte er, Amanda würde zu jener Generation gehören, »die es gewohnt ist, Schwarze an irgendeinem Baum in Alabama aufzuhängen«, wie Guedés Anwalt dann auch noch ergänzt.
Amanda, immer wieder Amanda und nur Amanda.
Selbst wenn man die Theorie der Anklage gegen die drei jungen Leute für vertretbar hielte, bliebe es unerklärlich, wie man der Amerikanerin aus Seattle aufgrund der am Tatort beschlagnahmten Fundstücke eine solche Rolle zuschreiben konnte, wie die Staatsanwälte es taten. Der Umstand, dass es sich um ein Sexualverbrechen gehandelt haben
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