Der Engel mit den Eisaugen
waren. Doch obwohl es sich zweifellos um ein Sexualverbrechen handelte, hatte man die Flecke nie untersucht.
Graham fragte Mignini nach dem Grund. »Weil die Spermaflüssigkeit von jedem hätte stammen können, sie hätte alt sein können und hätte uns nicht weitergebracht.«
Der englische Journalist übergab eine Kopie der Diskette mit der Aufzeichnung des Interviews an die Verteidiger der beiden Angeklagten, an Carlo Della Vedova, der Amanda vertrat, und an Raffaeles Anwalt Luca Maori. Die Verteidiger wiederum gaben die Diskette an den Generalstaatsanwalt Giancarlo Costagliola weiter, den Chefankläger des Berufungsverfahrens, der sich in diesem speziellen Fall ausnahmsweise von den beiden Staatsanwälten aus erster Instanz, Mignini und Comodi, unterstützen ließ.
Schon diese beiden Aussagen von Mignini hätten genügt, um zu zeigen, mit welcher Sorgfalt die Spurensicherung am Tatort vorgegangen war. Doch bereits zuvor hatte es Leute gegeben, die die Arbeit der Spurensicherung und der römischen Polizeilabore glaubwürdig angezweifelt hatten. Die Renommierteste unter ihnen war Anne Bremner, in Italien gänzlich unbekannt, in den Vereinigten Staaten dagegen fast so etwas wie eine Berühmtheit. Bremner wird regelmäßig von allen bedeutenden Fernsehsendern zu diversen Justizfällen interviewt. Bei der Strafkammer der Staatsanwaltschaft Seattle hatte sich die Kriminologin und Chefanklägerin auf Sexualdelikte spezialisiert. Wegen ihrer Arbeit bei Gericht kam sie auf die Liste der 100 Top Lawyers des Staates Washington. Sie erhielt zahlreiche wichtige Auszeichnungen und zählt zu den herausragenden Forensikspezialisten.
Ein Jahr nach Merediths Ermordung kommentierte Anne Bremner in einem Interview mit der Zeitschrift
Time
die Arbeit der Spurensicherung in Perugia, während die Aufnahmen der ersten Tatortbegehung auf ihrem Laptop liefen.
Anne Bremner hob besonders hervor, dass auf den blutverschmierten Bettlaken der Abdruck eines Messers zu sehen war und dass die Waffe, die man in Raffaeles Wohnung beschlagnahmt habe, nicht im mindesten mit dem Abdruck übereinstimme.
Ein weiterer Film, den der amerikanische Sender NBC ausstrahlte, zeigte, wie ungeschickt die Polizei in das kleine Landhaus eingedrungen war und dabei offenbar versehentlich einen Schuhabdruck verwischt hatte. »Fellini Forensic«, Gerichtsmedizin à la Fellini, meinte Anne Bremner, die mit
Friends of Amanda
kooperierte, einem Zusammenschluss von Amandas Freunden in Seattle und all jenen, die von ihrer Unschuld überzeugt waren.
»Es gibt keine Beweise, die sie mit dem Verbrechen in Verbindung bringen würden«, sagte Bremner, die außerdem darauf hinwies, dass ein Ermittler ohne Haarschutz Vermessungen an einer Wand vornahm, was die Beweise verunreinigt haben könnte.
In einem anderen Teil des Videos sieht man, wie Ermittler die Steppdecke anheben, die Merediths leblosen Körper bedeckt. Dabei, so Bremner, konnten unter Umständen überaus wichtige Partikel auf den Boden gefallen sein, die bei der Rekonstruktion des Tathergangs hätten helfen können.
Laut der amerikanischen Expertin waren Raffaeles DNA -Spuren auf dem BH -Verschluss nicht ernst zu nehmen, denn »das Objekt wurde erst zwei Monate nach dem Verbrechen gefunden, und wie aus dem Film hervorgeht, lag es immer wieder an einer anderen Stelle, was darauf schließen lässt, dass es mehrere Male aufgehoben wurde«.
Nach Ansicht von Anne Bremner waren die DNA -Spuren das Ergebnis einer Verunreinigung. Merediths mutmaßliches genetisches Material auf der Messerspitze hielt sie ebenfalls für nicht glaubwürdig, da die gefundene Menge viel zu gering sei, um sie ernsthaft analysieren zu können.
Die Intervention von Steve Moore war nicht weniger relevant. Der ehemalige Sonderbevollmächtigte des FBI und Supervisor der Geheimdiensteinheit zur Bekämpfung von al-Qaida in Pakistan hatte in der ganzen Welt in Fällen von krimineller Gewalt und Terrorismus ermittelt und konnte auf die Erfahrungen eines langen Berufslebens zurückblicken. Nachdem Moore seine Meinung in den amerikanischen Medien kundgetan hatte, wandte er sich in einem offenen Brief an die Italiener: »Ich habe«, begann er, »in einfachen und mehrfachen Mordfällen ermittelt. Und in all diesen Fällen habe ich Beweise untersucht. Ich habe Dutzende FBI -Agenten in komplexesten Untersuchungen angeleitet. Ich habe an der International Law Enforcement Academy in Bangkok, Thailand, Ermittlungstechniken unterrichtet. Von Beginn an
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