Der Engel mit den Eisaugen
Messer gesprochen hat, auf dessen Klinge meine Fingerabdrücke und Merediths DNA sind, und ich habe ihm gesagt, dass ich darüber nichts weiß. Ich bin noch nie mit einem Messer durch die Gegend gelaufen, aber er hat darauf beharrt. ›Deine digitalen Fingerabdrücke. Ihre DNA .‹ Ich habe ihm nur gesagt, dass ich unschuldig bin und auf einen anderen Beweis warte, der meine Unschuld belegen kann. ›Deine Fingerabdrücke. Ihre DNA .‹ Okay, ich hab’s kapiert.
Ich will dir von der vergangenen Nacht erzählen. Ich wurde in sein Büro gebracht, und er hat sich eine Zigarette angezündet, mich mit roten, schläfrigen, hungrigen Augen angeschaut, und weil ich nicht mit ihm über den Fall reden wollte, habe ich sofort angefangen, von einem Buch zu erzählen, das ich gelesen hatte, und dass ich heute mit dem Psychologen/der Psychologin sprechen und mich ein Priester besuchen würde …
›Warum hast du gestern geweint?‹ Es stimmt. Ich habe geweint. Die Polizei war gekommen, um in meiner Tasche zu wühlen und zu überprüfen, wie schuldhaft meine Schulbücher wohl sein könnten. Ein Polizist hat mich gefragt, ob ich die Nachrichten gesehen hätte, in denen es um das Messer gegangen war. Er wollte wissen, ob ich etwas dazu zu sagen hätte. Ich habe meine Geschichte wiederholt, habe gesagt, dass ich nicht in Merediths Nähe war, als sie umgebracht wurde. Dann hat er gelacht und gesagt: ›Wieder eine neue Geschichte? Noch eine Lüge?‹ Er hat mich angestarrt, als sei ich nicht besser als ein Fußlappen. Es war das erste Mal, dass mich jemand so angeschaut hat. Als ich zurück in meine Zelle gegangen bin, habe ich über die Ungerechtigkeit des Ganzen geweint, darüber, dass ich im Gefängnis sitze, über den Tod meiner Freundin, über die Polizei, die eine kalte, irrationale Spur verfolgt, weil sie nichts Besseres zu tun hat.
Ich habe dem stellvertretenden Chef gesagt, dies sei der Grund, warum ich geweint habe. Er hat den Kopf geschüttelt und wiederholt: ›Warum hast du gestern geweint?‹, wobei er mir unterstellte, ich hätte vor irgendetwas Angst. Also habe ich ihm gesagt, dass ich unschuldig bin und nichts zu befürchten habe. ›Aber deine Fingerabdrücke, IHRE DNA ?‹
Ja, ja, ich habe dich schon beim ersten Mal verstanden. Das heißt gar nichts. Und weißt du auch, warum? Weil ICH SIE NICHT UMGEBRACHT HABE .«
Am 30 . September 2012 wurde der Inspektor der Gefängnispolizei von Capanne, Raffaele Argirò, wegen sexueller Nötigung einer Strafgefangenen angeklagt. Dass die Betroffene in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt gewesen war, kam erschwerend hinzu. Bei der Frau, die zwischen Dezember 2006 und Januar 2007 Opfer des Gewaltakts geworden war, handelte es sich um eine Verkehrspolizistin aus Mailand, die wegen Mordes festgenommen, dann jedoch aus dem Gefängnis entlassen und freigesprochen worden war.
Als die junge Frau hörte, dass Amanda nicht gezögert hatte zu erzählen, was ihr passiert war, beschloss sie, Argirò anzuzeigen.
Sie erklärte: »Als ich gelesen habe, dass es Argirò war, der Amanda belästigt hat, dachte ich, dass jetzt der richtige Moment ist, um zu berichten, was passiert war … Ich wünsche mir, dass jemandem, der Situationen psychischer Abhängigkeit ausnützt, das Handwerk gelegt wird.«
Am Morgen des 3 . Oktober 2011 fanden sich viele Personen in Perugia ein, die an der Geschichte beteiligt gewesen waren, einer Geschichte, die vor vier Jahren begonnen hatte und deren Ende sie nun miterleben wollten. Die Menschen, ihre Worte und ihre Gesichter, waren voller Hoffnung, und doch verspürten sie in ihrem tiefsten Inneren Angst. Es war der Tag der Urteilsverkündung durch das Berufungsgericht. Danach konnte nur die Freiheit kommen oder das Gefängnis, und zwar ein für alle Mal, endgültig. Es gab keine Alternativen.
Amandas Eltern, Schwestern und ihre beste Freundin Madison Paxton verbarrikadierten sich in ihrem Hotel, um mit ihrer Angst allein zu sein, unbehelligt von den Medien. Raffaeles Vater blieb in seinem Hotel etwas außerhalb von Perugia, das kein Journalist kannte.
Einige amerikanische und englische Presseleute trafen sich an einem zauberhaften Ort zwischen Perugia und Todi. Der englische Professor und Arzt David Anderson und seine Frau Jenny – beide überaus aktive Verfechter von Amandas und Raffaeles Unschuld – hatten die schöne Villa, ein ehemaliges Bauernhaus, in den letzten Jahren für alle geöffnet, die nach Perugia gekommen waren, um den
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