Der Engel mit den Eisaugen
Daumen berührte und mit den übrigen Fingern in der Luft herumwedelte, und verließ dann den Saal.
Während Ende September 2011 das Urteil des Berufungsverfahrens nahte, fanden in Perugia und andernorts weitere Prozesse statt, bei denen es nicht mehr nur um die beiden Protagonisten, sondern auch um jene Figuren ging, die eine mehr oder minder große Rolle in dem Fall gespielt hatten.
Am aufsehenerregendsten war zweifellos das Berufungsverfahren im Fall des Staatsanwalts Giuliano Mignini und des Kommissars Michele Giuttari. Bei beiden ging es um Amtsmissbrauch, den sie bei ihren Ermittlungen zum Mord an dem Arzt Narducci begangen hatten, der angeblich mit dem Monster von Florenz in Verbindung stehen sollte. Schon am 22 . Januar 2010 hatte das Gericht von Florenz den Staatsanwalt und den Kommissar des mehrfachen Amtsmissbrauchs für schuldig befunden, unter anderem auch, weil sie Journalisten ohne jede Genehmigung abgehört hatten. Mignini wurde zu einem Jahr und vier Monaten Gefängnis verurteilt, Giuttari zu einem Jahr und sechs Monaten. Zusätzlich wurde ihnen das Recht zur Ausübung aller öffentlichen Ämter aberkannt.
Beide gingen in Berufung. Unter den notorisch zynischen Gerichtsreportern begann man Wetten abzuschließen, was sich die Staatsanwaltschaft einfallen lassen würde, um das Urteil in der zweiten Instanz zu revidieren. Ein Freispruch war aufgrund der Beweislage und der Augenfälligkeit der Vergehen nicht möglich. Und dennoch hätten nur wenige auf eine Verurteilung in erster Instanz gewettet. Niemals würde ein Staatsanwalt einen anderen bestrafen, davon war man überzeugt. Ganz sicher würde eine derartige Extravaganz umgehend korrigiert. Doch wie die Sache laufen würde, wagte damals niemand vorherzusagen.
Am Urteil gegen Mignini und Giuttari gab es noch einen anderen – grotesken – Aspekt: Der zuständige Richter des Zwischenverfahrens hatte Migninis Antrag abgelehnt, sämtliche 21 Verdächtige im Fall Narducci, meine Person eingeschlossen, vor Gericht aufmarschieren zu lassen. Der Antrag wurde ad acta gelegt, und nun standen die Ermittler Mignini und Giuttari als die einzigen Verurteilten in der Sache da. Natürlich reichte Mignini auch in diesem Fall Kassationsbeschwerde ein. Mit welchem Ergebnis, ist noch offen.
Abgesehen davon wurden weitere Verfahren von der Staatsanwaltschaft Perugia eingeleitet: Raffaeles Vater Francesco Sollecito wurde angeklagt, weil er Fotos an einen Fernsehsender weitergegeben hatte, die nicht hätten veröffentlicht werden dürfen. Amandas Eltern Edda und Curt sowie ihr Stiefvater Chris Mellas wurden der üblen Nachrede gegen die Polizei in Perugia beschuldigt. Ich selbst wurde von Mignini und später auch von Kommissar Giuttari wegen übler Nachrede und Rufmords angeklagt. Am Ende waren es dann insgesamt sechs Prozesse. Auch Amanda wurde beschuldigt, Polizeibeamte diffamiert zu haben, jene nämlich, die sie während der ersten Vernehmung beschimpft und mehrfach geschlagen hatten.
Während diese Prozesse öffentlich waren, spielten sich andere Verhandlungen hinter verschlossenen Türen ab. Eigentlich hätte man weniger von »Prozessen« sprechen sollen als vielmehr von inquisitorischen Verfahren aus der Zeit der Hexenverfolgungen – als Hexen in ihrem dunklen Kerker allen Arten von Erpressungen und Repressalien ausgesetzt waren.
In seinem Memoire
Honor Bound,
das am 18 . September 2012 in den USA von Gallery Books veröffentlicht wurde, berichtet Raffaele Sollecito, wie während des Prozesses eine geheime Verhandlung stattgefunden habe. Er bekam mit, wie zwei Anwälte aus Perugia, enge Vertraute von Staatsanwalt Mignini, mit seiner Familie, vor allem mit seinem Vater Francesco und seinem Onkel Giuseppe, Kontakt aufnahmen und behaupteten, sie könnten eine Strafminderung oder sogar einen Freispruch erwirken, wenn Raffaele den Sachverhalt im Sinne der Mordanklage gegen Amanda Knox bestätigen würde. Sollte heißen: wenn er aussagen würde, in der Mordnacht allein zu Hause gewesen zu sein.
Heute erklärt Raffaele: »Meiner Familie wurde gesagt, Mignini sei nicht an mir interessiert, er brauche mich allenfalls, um an Amanda heranzukommen. Man ging so weit, zu behaupten, er sei bereit, meine Unschuld anzuerkennen, wenn ich ihm dafür entgegenkäme und Amanda belasten oder sie bei der Rekonstruktion des Tathergangs nicht mehr unterstützen würde wie bisher.«
Einer der Anwälte drang darauf, Raffaele solle einem Deal zustimmen und zugeben, dass er eine
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