Der Engel mit den Eisaugen
Einrichtung – die Möbel, die Deckenleuchten, das lange Richterpult und die Stühle – war modern und bildete einen Kontrast zu dem großen, altehrwürdigen Raum mit seinen steinernen Wänden, auf denen stellenweise noch gotische Fresken zu sehen waren. Auf der rechten Seite befand sich ein breiter Eisenkäfig, der bis vor kurzem für Angeklagte verwendet worden war, die man als besonders gefährlich eingestuft hatte.
Auf der gegenüberliegenden Seite gab es eine niedrige Tür mit einem massiven steinernen Türsturz: Hier würden später Amanda und Raffaele, von den Gefängniswärtern eskortiert, hereinkommen. Gleich zu ihrer Linken würden die beiden jungen Leute Merediths Mutter, Schwester und Bruder auf einer langen Bank an der Wand sitzen sehen.
Die Staatsanwälte Mignini und Comodi und Generalstaatsanwalt Costagliola belegten die Bank auf der linken Seite. Hinter ihnen saßen die Anwälte der Zivilkläger und auf der rechten Seite die Verteidiger. Gegenüber den Kerchers wartete eine weitere Bank darauf, dass Amandas Angehörige auf ihr Platz nahmen. Die Angeklagten selbst würden in der ersten Reihe neben ihren Anwälten sitzen.
Der Raum war eher breit als lang, und eine hölzerne Barriere, die längs von einer Seite zur anderen lief, trennte den für die Presse reservierten Bereich vom Rest des Saals ab. Vor allem dort, wo die beiden Angeklagten die Aula betreten würden, drängten sich Fotografen und Kameraleute um das hölzerne Geländer. Um das beste Bild zu bekommen, hatten sich viele von ihnen mit hohen Hockern oder Tritten bewaffnet. Zusammen bildeten sie eine Menschenmauer, die einem den Blick auf den Saal dahinter fast gänzlich verstellte. Um noch etwas sehen zu können, musste man den Kopf zwischen die Beine der Bildreporter stecken, die hoch oben auf ihren Hockern und Trittleitern standen.
Nervöses Blitzlichtgewitter, das kein Ende nehmen wollte. Eiliges Getrappel vor den langen Pulten der Chefankläger und Anwälte. In der Luft die Vibration einer unsichtbaren Stimmgabel, das Zeichen der Ankunft von Amanda und Raffaele im Saal.
Blass und teilnahmslos ließ sich jeder von ihnen neben seinem Anwalt nieder. Der Vorsitzende Claudio Pratillo Hellmann erklärte den beiden, wenn sie wollten, könnten sie jetzt ihr Schlusswort halten.
Amanda erhob sich als Erste. Völlige Stille senkte sich über den Saal.
Sie wirkte unsicher, zerbrechlich und erinnerte an schwankendes Schilf, aber eben an Schilf, das dem Wind widerstand. Ihre Stimme brach vor Angst. Mehr als einmal musste sie innehalten, um Luft zu holen. Ihre zu Fäusten geballten Hände machten fahrige Gesten. Und sie sprach ein hervorragendes Italienisch.
»Verehrte Damen und Herren, hohes Gericht …«, begann sie mit einer Formel, zu der ihr ihr Anwalt geraten haben musste. Noch einmal beteuerte sie ihre Unschuld, erklärte, sie sei an jenem Abend bei Raffaele zu Hause gewesen. In der Zeit nach dem Verbrechen habe er ihr glücklicherweise zur Seite gestanden, da ihre eigene Familie doch weit weg war. »Ich hatte niemanden. In diesem Moment war er alles für mich. Ich hatte ihn.«
Doch Amanda beließ es nicht dabei, sich zu verteidigen, sondern wandte sich auch an diejenigen, die sie in diesen schrecklichen Alptraum hineinmanövriert hatten: »Dank meiner Erziehung habe ich mich der Justiz, der Obrigkeit, verpflichtet gefühlt und ihr vertraut, denn sie war ja auch da, um uns zu beschützen. Ich habe ihr blind und vollauf vertraut. Bis zur Erschöpfung habe ich mich zu allem bereit erklärt, und ich wurde verraten. In der Nacht vom 5 . auf den 6 . November wurde ich nicht nur unter Druck gesetzt und belastet, ich wurde auch manipuliert.«
An dieser Stelle versagte ihr die Stimme. Der Vorsitzende Hellmann bot ihr rücksichtsvoll an, sich zu setzen, wenn ihr das lieber sei. Doch Amanda blieb stehen und fuhr fort: »Ich bin nicht das, was von mir gesagt wird. Das Einzige, was jetzt anders ist als vor vier Jahren, ist, dass ich gelitten habe … Mein bedingungsloses Vertrauen in die Autorität der Polizei wurde verraten. Ich muss auf eine ungerechte Anklage, die jeglicher Grundlage entbehrt, antworten, und ich bezahle mit meinem Leben für etwas, das ich nicht getan habe. Ich will nach Hause …« Wieder brach ihr die Stimme. Eine Geschworene versuchte, ihre Ergriffenheit zu verbergen, indem sie sich ein Taschentuch vors Gesicht hielt, als sei sie erkältet.
»Ich will … in mein altes Leben zurück. Ich will nicht für etwas, das
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