Der Engel mit den Eisaugen
Prozess zu verfolgen – Verwandte, Journalisten, Autoren, Blogger und Freunde.
Im vergangenen Sommer waren Amandas Eltern und Chris Mellas, der zweite Mann ihrer Mutter, dort gewesen, ihre beiden Schwestern Deanna und Cassandra, der englische Journalist Bob Graham, Frank Sfarzo sowie die Autorin Candace Dempsey. Und natürlich auch die wunderbare Madison Paxton, Amandas Herzensfreundin, die Seattle sofort verlassen hatte, als sie von der Verhaftung erfuhr. Sie zog nach Perugia und blieb die nächsten vier Jahre dort, um Amanda nah sein und sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit im Gefängnis sehen zu können.
Der 3 . Oktober war ein schöner Tag, und auf dem grünen Rasen um den Swimmingpool der Andersons schien eine gelöste Atmosphäre zu herrschen. Keiner erwähnte das Drama, das drohend über unseren Köpfen hing.
Zu den Gästen an jenem Tag zählten auch der ehemalige FBI -Agent Steve Moore, der extra aus den Staaten angereist war, um den Ausgang des Dramas mitzuerleben, der beharrliche Bob Graham, die beiden amerikanischen Dokumentarautoren Rod Blackhurst und Brian McGinn, die vorhatten, Amanda so darzustellen, wie sie wirklich war, und (natürlich) Frank Sfarzo. Auch ich und meine Frau Myriam waren gekommen, weil wir es als unsere Pflicht ansahen, einfach da zu sein. Aus Maine bombardierte mich Douglas mit SMS -Botschaften, ich möge ihm den Ausgang des Prozesses gleich mitteilen. Wir alle schwebten in einem Zwischenreich aus wunderbarem Traum und schlimmstem Alptraum.
Wenn doch mal jemand den Fall erwähnte, dann waren es die Journalisten, aber sie hielten sich im Abseits, fast schon im Verborgenen, um die fragile Heiterkeit nicht zu zerstören. Die ausländischen Kollegen wollten vor allem von mir wissen, wie es möglich war, dass ein Staatsanwalt, den man in erster Instanz wegen Amtsmissbrauchs verurteilt hatte, weiterhin seiner Arbeit nachgehen konnte und nicht bis zum endgültigen Urteil vom Amt suspendiert wurde. Ich bezweifle, dass sie die Antwort, die ich ihnen hätte geben können, verstanden hätten. Dafür brauchte es wohl fast so etwas wie eine Pressekonferenz zum Zustand von Justiz und Politik in meinem Land, ein Zustand, der allzu byzantinisch anmutet und zu weit von der angelsächsischen Kultur entfernt ist.
Und so antwortete ich: »Ihr könnt mir glauben, ich kann’s euch nicht erklären.«
Sicher wäre ihnen die Lektüre des Interviews von Nutzen gewesen, das der Journalist Pasquale De Feo mit dem Richter Edoardo Mori geführt hatte; und zwar just in jenen Tagen, als der Richter beschloss, seine Robe abzulegen. Darin erklärte er, er sei angewidert von der miserablen Vorbereitung und der Parteilichkeit, die bei den Gerichten vorherrsche.
Von 1977 an war Edoardo Mori erst Untersuchungsrichter, dann Ermittlungsrichter und schließlich Konkursrichter sowie Präsident des Tribunale di Libertà, des Freiheitsgerichts in Bozen. Dort spielte er eine Hauptrolle in den Prozessen gegen Südtiroler Terroristen und verurteilte später grausame Serienkiller wie Marco Bergamo (fünf Prostituierte, erstochen und regelrecht abgeschlachtet).
»Ich hätte noch bis 2014 im Amt bleiben können, aber ich konnte nicht mehr. Da gehe ich lieber in Rente.«
Ohne es zu wissen, hatte Richter Mori die Fragen meiner amerikanischen und englischen Kollegen beantwortet. »Ein Richter«, sagte er, »kann sein ganzes Leben lang irren, und keiner sagt etwas dazu. Die Feststellung einer eventuellen Schuld läuft über drei Instanzen, und bei dieser Unterteilung hat die Körperschaft ein verteufeltes Geschick an den Tag gelegt. Das Ergebnis: eine Lossagung von jeglicher Verantwortlichkeit. Der Richter der ersten Instanz ist sich nicht sicher? Macht nichts, er verurteilt trotzdem, im Zweifelsfall wird es der Kollege in zweiter Instanz schon richten. Für Staatsanwälte brauchte es eine Strafbarkeitsbestimmung. Aber eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, zumindest nicht in Italien. In Deutschland hingegen gibt es dieses spezielle Vergehen. Man nennt es ›Rechtsbeugung‹. Und genau das ist es: Eine Beugung des Rechts durch den Richter.«
Der »reuige« Richter prangert unbarmherzig weitere Missstände an: »Inzwischen kann man sich nicht mal mehr auf DNA -Untersuchungen verlassen, man muss ja nur sehen, was für eine jämmerliche Figur die Ermittler beim Berufungsprozess im Mordfall Meredith Kercher abgegeben haben.
Das Polizeisystem, die Behandlung der Angeklagten und die Beziehung zwischen Staatsanwalt und
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