Der Engel mit den Eisaugen
geben: Fabio Gioffredi, ein Hochschulassistent, der sich ein Jahr nach dem Verbrechen ebenfalls urplötzlich zu erinnern schien. Er war zur Staatsanwaltschaft gegangen und hatte erklärt, Amanda, Raffaele und Guedé am Nachmittag des 30 . Oktober vor dem Landhaus in der Via della Pergola gesehen zu haben. Er sei dort gewesen, weil er einen Autounfall gehabt habe. Mit wem oder mit welchem Auto, wusste er nicht mehr, und einen Nachweis, dass er seiner Versicherung den Unfall gemeldet hatte, konnte er auch nicht vorweisen. Er beharrte darauf, dass Amanda einen roten Mantel getragen habe, doch die Amerikanerin hatte nie einen besessen. Als während einer Untersuchung von Raffaeles Computer festgestellt wurde, dass der junge Mann aus Apulien am Nachmittag des 30 . Oktober an seiner Diplomarbeit gearbeitet hatte, war dies der endgültige Beweis für das Gericht, dass Gioffredi alles erfunden hatte. Der Hochschulassistent wurde nach Hause geschickt, gebrandmarkt als pathologischer Lügner.
Den anderen Zeugen erging es nicht besser: Von dem Händler, der (ebenfalls mit einem Jahr Verspätung) beteuerte, er habe Amanda am Tag nach dem Verbrechen Bleichmittel verkauft – nur, dass er sich dabei leider vertat –, bis zu der Frau, die den Schrei des Opfers gehört haben wollte, was aber gar nicht möglich war, wie sich in einem Experiment herausstellte.
Die 39952 Telefonüberwachungen, von denen nicht nur die engsten Verwandten der Angeklagten betroffen waren, sondern auch deren Freunde und entfernte Familienangehörige, brachten keine Ergebnisse. Nicht ein einziges legten die Staatsanwälte dem Gericht vor.
Der zwanzigminütige Film, eine dreidimensionale Rekonstruktion des Tathergangs, wie ihn die Anklage sich vorstellte, hatte 182000 Euro gekostet, brachte aber rein gar nichts, da niemand ihn anschaute. Die Staatsanwaltschaft hatte ein Studio damit beauftragt.
Als sei das alles nicht existent, forderte der stellvertretende Generalstaatsanwalt Costagliola am 24 . September 2011 , auch im Namen der beiden Staatsanwälte Mignini und Comodi, dass Amandas und Raffaeles Schuld bestätigt und ihr Strafmaß auf eine lebenslange Gefängnisstrafe erhöht werde. Amanda sollte zusätzlich sechs Monate Einzelhaft bekommen und Raffaele zwei.
Das strengere Strafmaß sei notwendig, erklärte Costagliola, weil keine Strafmilderungsgründe zu erkennen seien.
Manuela Comodi ging in ihrem Plädoyer wieder dazu über, Amanda als männermordenden Vamp darzustellen, als eine Venus im Wolfspelz oder gar als eine »Jessica Rabbit«.
Mignini hingegen kam Guedé, »dem steinernen Gast« während des Prozesses gegen Amanda und Raffaele, zu Hilfe. »Auf irgendeine Art«, erklärte der Staatsanwalt, »war er immer präsent. Denn Sollecito und Knox haben sich nicht damit begnügt, ihre Unschuld kundzutun, nein, sie mussten ihn auch noch belasten … Es kann nicht schon wieder ein Farbiger für alles herhalten, noch dazu einer, der noch nicht mal als der eigentliche Verursacher des Verbrechens betrachtet wird.«
Mignini sprach auch von einer »andauernden Dämonisierung« einiger seiner Zeugen und bezog sich dabei auf die Kritik der Verteidigung. »Einige Zeugen haben gezögert, vor die Untersuchungsrichter zu treten, aber dann haben sie es getan, und zwar in absolut korrekter Weise. Die Verteidiger haben jedoch unterstellt, es hätte dazu wer weiß welcher Manöver bedurft.«
Die beiden Staatsanwälte hatten keine Zeugen, sie hatten keine Tatwaffe, und sie hatten keinerlei DNA -Spuren der Angeklagten am Tatort vorzuweisen. Und schließlich wischten sie auch noch ihre sämtlichen Theorien zum möglichen Tatmotiv vom Tisch.
Keine Halloween-Hexenrituale mehr, keine Orgie und kein extremer Sex. Nicht mal mehr der Plan zu einem sexuellen Gewaltakt. Auch der Diebstahl der 300 Euro, die aus Merediths Schublade verschwunden waren, spielte keine Rolle mehr. »Sie haben wegen nichts und wieder nichts gemordet«, behauptete Mignini.
»Wegen nichts und wieder nichts gemordet«, echote Manuela Comodi, »aber dennoch müssen sie zum höchsten Strafmaß verurteilt werden. Und zum Glück«, sagte sie mit Blick auf die Amerikaner sarkastisch, »gibt es in Italien keine Todesstrafe.«
Als es an den Verteidigern war, das Wort zu ergreifen, ignorierte Mignini sie ostentativ. Er wandte ihnen den Rücken zu, um mit den Anwälten zu sprechen. Die Comodi hingegen zeigte den Verteidigern allen Ernstes eine lange Nase, indem sie ihre Nasenspitze mit dem
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