Der Engel mit den Eisaugen
geringe Rolle gespielt habe – dass er etwa den Tatort gereinigt habe, ansonsten aber an dem Verbrechen nicht beteiligt gewesen sei.
Das Ergebnis war, dass Familie Sollecito der Eindruck vermittelt wurde, der Staatsanwalt sei derselben Auffassung. Dies unter anderem auch, weil einer der Anwälte anbot, »bei Mignini zu vermitteln, ohne allerdings etwas versprechen zu können«.
Weshalb hätten die beiden Anwälte eine solche Initiative von sich aus ergreifen sollen? Nur um glauben zu machen, sie seien wichtig?
Raffaeles Vater war überzeugt, die Anwälte seien direkt von Mignini geschickt worden. Migninis Entschlossenheit, Raffaele überhaupt verurteilen zu wollen, erschien ihm nun als der Versuch, Amanda zu einem Geständnis zu bringen.
Raffaeles Schwester Vanessa, damals Offizierin bei den Carabinieri, bekräftigte, dass es »moralisch nicht vertretbar« sei, auf den Deal einzugehen und ein nie begangenes Verbrechen zuzugeben. Doch hinter den Kulissen gingen die Verhandlungen dank eines weiteren Anwalts in eine zweite Runde. Dieser Anwalt war ebenfalls ein enger Vertrauter Migninis und im Sommer gerade erst zur Taufe von dessen jüngster Tochter eingeladen worden. In aller Offenheit sagte er der Familie Sollecito: »Ich glaube, dass Raffaele unschuldig und Amanda schuldig ist.«
Das Tempo der Verhandlungen beschleunigte sich, als Raffaeles Vater seinen informellen Kanal im Sommer 2010 so weit nutzte, dass ihm sogar ein Treffen mit Mignini, dessen Stellvertreterin Manuela Comodi und Raffaeles Verteidigerin Giulia Bongiorno möglich erschien. Doch als Bongiorno, die der Justizkommission der Abgeordnetenkammer angehörte, verstand, worum es wirklich ging, war sie vollkommen entsetzt und drohte, ihr Mandat niederzulegen. Erst da begriff Raffaeles Vater, ruderte zurück und zeigte sich »beschämt«. Er bat Bongiorno, ihr Mandat weiterhin auszuüben. Er sei sich nicht darüber im Klaren gewesen, was er tat.
Die Verhandlungen rissen ab.
Als der Staatsanwalt von deren Offenlegung erfuhr, bestritt er kategorisch, einen Handel irgendwelcher Art angestrebt zu haben, und behielt es sich vor, ein neues Verfahren gegen Raffaele einzuleiten.
Auch Amanda Knox wurde in den ersten zwei Monaten ihrer Haft in einen abstoßenden Vorgang verwickelt, den sie in ihrem Tagebuch sehr detailliert beschrieb. Sie hatte beschlossen, das Tagebuch ins Gefängnis mitzunehmen, »denn«, so schrieb sie am Anfang, »ich will mich erinnern«.
Auf Seite 22 heißt es: »Der stellvertretende Chef (der Gefängniswärter, Anm. d. Verf.) verhält sich seltsam. Er sagt, er würde eine Tochter in mir sehen, aber immer wenn ich in seiner Nähe bin, habe ich das Gefühl, als würde er irgendetwas suchen – so als wäre ich ein großes Mysterium und als würde sich hinter jedem meiner Worte ein Doppelsinn verbergen. Der Typ scheint sich sehr für mein Sexualleben zu interessieren. Und dauernd sagt er mir, ich sei hübsch. Leute, die ständig mein Aussehen kommentieren, sind mir suspekt. Ein Beispiel: Er zwinkert mir zu, wenn ich ›Fanbriefe‹ von Häftlingen bekomme, die mich im Fernsehen gesehen haben. Er sagt mir, ich solle nicht weinen, weil ich dann hässlich würde. Er hat schon einige Kommentare zu meinem Aussehen gemacht, und wenn er mich sieht, mustert er mich ungeniert von Kopf bis Fuß. Er fragt mich, ob ich erotische Träume habe. Er will wissen, ob ich gut im Bett sei. Als ich ihm sagte, dass mir sein Interesse an meiner Sexualität komisch vorkommt (ich habe versucht, höflich zu sein, aber was ich eigentlich sagen wollte, war VULGÄR !), hat er so getan, als sei nichts und als sei es meine Schuld, weil ich keine Grenze gezogen habe. Ja, klar.
Das erste Mal, als er mich gefragt hat, ob ich gut im Bett sei, habe ich ihn ungläubig angeschaut und ›Was???‹ gesagt. Er hat nur gelächelt und gemeint: ›Na, komm schon, antworte einfach auf meine Frage. Du weißt es doch, oder nicht?‹
Beim ersten Mal habe ich das dem kulturellen Unterschied zugeschrieben, aber als ich meiner Zellengenossin davon erzählte, meinte sie, das sei unglaublich vulgär. Jetzt bin ich noch mehr davon überzeugt, dass er einfach nur glauben will, ich sei leicht zu haben. Vielleicht will er mit den Medien reden.
Er überbringt mir ›Neuigkeiten‹, als würde er mir helfen wollen, und er möchte unbedingt wissen, wie ich mich im Hinblick auf die Beschuldigungen, die gegen mich erhoben werden, fühle. Er war der Erste, der mit mir über das angebliche
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