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Der Engel mit den Eisaugen

Der Engel mit den Eisaugen

Titel: Der Engel mit den Eisaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Douglas & Spezi Preston , Mario Spezi
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ich nicht getan habe, bestraft und meines Lebens beraubt werden. Und … und … wir verdienen die Freiheit, denn wir haben nie etwas getan, um sie nicht zu verdienen.«
    Sie war fertig. Einige im Saal schluckten. In vielen Augen standen Tränen. Kein Stimmengewirr erhob sich nach Amandas Worten.
    Raffaele war an der Reihe. Er war sichtlich distanzierter als die junge Frau, doch auch er wirkte, als stünde er am Rand eines Brunnenschachts, der ihn zu verschlingen drohte. Sein Ton war zurückhaltend, beinahe resigniert. Er wusste, dass jetzt alles entschieden war.
    Doch er wollte den Richtern und vor allem auch den Geschworenen ein anderes Bild von sich und Amanda vermitteln als das, was die Medien gezeichnet hatten.
    »Am Abend des 1 . November«, erklärte er, »befand ich mich in einer wunderbaren, ja, ich würde fast sagen, idyllischen Situation. Ich war dabei, ein für mich wichtiges Ziel zu erreichen. Bis zur Abgabe meiner Diplomarbeit waren es nur noch wenige Tage, und vor kurzem hatte ich Amanda Knox kennengelernt.« Raffaele warf einen Blick nach rechts auf die junge Amerikanerin, mit der er nur neun Tage zusammen gewesen war. »Eine schöne, heitere, lebhafte und … sanfte junge Frau. Es war unser erstes gemeinsames Wochenende, wir waren frei von allen Verpflichtungen und hatten nur den einen Wunsch, den Abend voller Zärtlichkeit zu verleben.«
    Am Ende seiner Ansprache strich sich Raffaele ein gelbes Plastikarmband vom linken Handgelenk, auf dem – grammatikalisch nicht ganz korrekt – geschrieben stand: »Libero Amanda e Raffaele« – »Befreit Amanda und Raffaele«. Ein paar Mitglieder der Vereinigung
Free Amanda and Raffaele
hatten es ihm geschenkt, und seit Beginn des ersten Prozesses hatte er es nicht ein einziges Mal mehr abgelegt.
    »Jetzt«, sagte er, »ist der Moment gekommen.« Er legte das Armband vor sich auf den Tisch, als würde er es dem Richter darbieten – zusammen mit seinem Vertrauen in die Entscheidung, die dieser fällen würde. Denn ganz gleich, wie das Urteil ausfiel, er würde keinen Grund mehr haben, das Armband zu tragen.
    Die kurze Sitzung war vorbei. Der Vorsitzende Hellmann legte den Zeitpunkt der Urteilsverkündung auf halb neun am selben Abend fest. Anschließend zog sich das Gericht ins Beratungszimmer zurück. Langsam gingen die Zeitungsjournalisten hinaus auf die sonnenbeschienene Piazza, die Fernsehleute eilten zu ihren Übertragungsstationen zurück, um die
breaking news
von der Uhrzeit zu verkünden, zu der das Urteil verlesen werden sollte und die Sender ihr laufendes Programm unterbrechen würden.
    Fast alle, die sich für einen Freispruch der beiden jungen Leute eingesetzt hatten, fanden sich erneut im Garten der Villa von Doktor David Anderson ein.
    Es war nicht nur strahlend schön, sondern auch warm wie im Sommer. Die Jüngsten unter uns sprangen in den Swimmingpool. Jenny und David reichten einen hervorragenden Wein aus eigener Herstellung und Platten mit exquisitem umbrischem Aufschnitt. Ein ahnungsloser Gast hätte vermutet, die Menschen hier würden einen unbeschwerten Urlaub verbringen. Doch die Heiterkeit war nur vorgetäuscht, vor allem machten sich die Anwesenden selbst etwas vor. Insgeheim hofften sie, die Zeit würde langsamer vergehen und der Moment, da sie zurück nach Perugia mussten, um den Urteilsspruch anzuhören, ließe sich immer noch weiter hinausschieben.
     
    Auf der Suche nach einer ernstzunehmenden Abhandlung über Hexen surfte ich durchs Internet. »Hexenjagd – Semiotik der Angst« von Jurij Lotmann mit einer Vorbemerkung von Silvia Burini erregte meine Aufmerksamkeit. Der Text war sehr lang, und es strengte mich an, ihn auf dem kleinen Bildschirm meines Laptops zu lesen. Ein paar der Aussagen erschienen mir jedoch überaus geeignet, um das Geschehen, das ich hier verfolgte, wenigstens teilweise zu verstehen.
    Eines überraschte mich besonders: Die Autoren bezeichneten es als völlig falsch, das Phänomen der Hexenjagd lediglich mit dem Mittelalter in Verbindung zu bringen. Schließlich sei ein Großteil der Opfer zwischen dem 15 . und 17 . Jahrhundert umgekommen, in der Blütezeit der Renaissance also – nicht im sogenannten dunklen Zeitalter, sondern fast schon an der Schwelle zur Aufklärung. Mit anderen Worten: Es ist ein Irrtum, anzunehmen, derartige Phänomene würden in »zivilisierten« Zeiten nicht mehr existieren, ganz im Gegenteil.
    Im Gedächtnis blieb mir auch die Aussage, wie typisch gerade Prozesse gegen

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