Der Engel mit den Eisaugen
junge »Hexen« waren. Dies zeigt die Tragödie um die 29 Scheiterhaufen in Würzburg, auf denen im Jahr 1629 je vier bis sechs Menschen bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Die makabre Auflistung der Opfer enthielt Vermerke wie: »ein Mädchen von neun oder zehn Jahren«, »ein Kleinkind«, »sein Schwesterchen«, »ein Mädchen um die fünfzehn«, »eine junge Schönheit aus Würzburg«, »eine Hebamme, die sich zu elegant kleidete« und so weiter.
Mir fiel auf, dass das Wort »fremd« außerordentlich oft in der Liste auftauchte. Jung, schön, fremd: Am Ende war dies die am häufigsten wiederkehrende Definition einer Hexe, die brennen musste. Und es war auch die Beschreibung von Amanda Knox.
Weiter las ich: »Das gesamte Verfahren zur Wahrung der Rechte der Angeklagten wurde ausgehebelt, und Verhöre führten zu einer Erzwingung der geforderten Geständnisse mittels Drohungen und physischer Gewalt. Parallel dazu waren die Anwälte, die mitunter versuchten, die Hexen zu verteidigen, schwersten Einschüchterungen ausgesetzt.«
In dem Text war also von eingeschüchterten Anwälten die Rede. Zur damaligen Zeit gab es ja auch noch keine Journalisten.
Die gefürchtete Stunde hatte geschlagen. Es war Zeit, von allen Zerstreuungen abzulassen, sich ins Auto zu setzen und nach Perugia zu fahren.
David Anderson forderte das Schicksal heraus: Er verstaute einen Kasten Champagner im Kofferraum seines Peugeot.
Als wir vor dem Justizpalast ankamen, war der Himmel fast schwarz. Doch durch die vielen Scheinwerfer der Fernsehsender, in deren Licht die Menschen riesige Schatten auf die antiken Palazzi warfen, war der Platz fast taghell erleuchtet. Das Polizeiaufgebot war beträchtlich, doch man spürte keine Nervosität in der Menge. Viele Leute, vor allem junge, waren gekommen, und es wurden immer mehr. Die Besitzer der Cafés und Pizzerien waren zufrieden. Heute lief das Geschäft außergewöhnlich gut.
Wieder drängten sich Journalisten aus aller Welt um die trichterförmige Absperrung, durch die einer nach dem anderen durchgeschleust wurde, um seine Akkreditierung kontrollieren zu lassen. Die ganze Prozedur zog sich ziemlich in die Länge, und viele begannen, nervös zu werden. Es war seltsam, die Engländer, Amerikaner und Deutschen zu beobachten, die versuchten, sich vorzudrängeln – ganz so, als seien sie plötzlich alle zu Italienern geworden.
Zwei Stockwerke tiefer ragte wieder die Mauer aus Fotografen und Kameraleuten auf. Hinter ihnen versuchten sich Journalisten die Zeit zu vertreiben, indem sie Meinungen und Prognosen austauschten.
Aus den Staaten schickte mir Doug Preston eine weitere SMS . »Und?« Inzwischen hatte ich mich informiert. Das Gericht würde noch mindestens zwei Stunden brauchen, was ich ihm umgehend mitteilte.
Trotz der langen Wartezeit ging niemand mehr ins Freie, weil man befürchtete, noch einmal die Kontrollen passieren zu müssen. Ein paar eingefleischte Raucher fanden ein stilles Eck – eine Art Nische zwischen zwei uralten Mauern unter einer Treppe –, wo sie ungestört qualmen konnten. Die Carabinieri taten, als würden sie es nicht bemerken.
Stattdessen entdeckten sie Frank Sfarzo. Eine Handvoll Beamte näherte sich ihm mit grimmigem Gesichtsausdruck. »Du kannst hier nicht bleiben. Du musst gehen.«
Frank zeigte seine Akkreditierung und fragte: »Wieso? Es hat alles seine Ordnung …«
»Nein«, antwortete einer. »Pro Zeitung darf nur ein Journalist hier rein. Und von deiner ist der Direttore schon da.«
Sfarzo musste lachen. Natürlich hatte sein Blog keinen Direttore, er war der einzige Autor. »Direttore? Was denn für ein Direttore? Ich arbeite allein …«
Doch es half nichts. Sie packten ihn am Arm und führten ihn hinaus auf den Platz. Frank Sfarzo gesellte sich zu David Anderson, meiner Frau und ein paar anderen Freunden. In einem Van des amerikanischen CBS -Senders verfolgten sie auf Bildschirmen das Geschehen im Saal.
Der ehemalige FBI -Agent Steve Moore betrat den Saal, ohne aufgehalten zu werden. Ich weiß nicht, ob er das einer gefälschten Akkreditierung oder irgendeinem Geheimdienst-Trick verdankte.
Um halb elf teilte ein Angestellter den Anwälten mit, das Gericht sei bereit. Alle gingen zu ihren Plätzen und warteten auf den Auftritt der Richter. Draußen war die Menge der jungen Leute derart angewachsen, dass es schier unmöglich war, die Piazza zu überqueren. Viele hatten sich mit einer Bierflasche auf die breite Treppe des Gebäudes vor dem
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