Der Engel mit den Eisaugen
Gericht gesetzt. Das grelle Scheinwerferlicht strahlte sie gnadenlos an und verlieh ihren Gesichtern etwas Geisterhaftes. Die Luft war elektrisch geladen.
Im Saal beschleunigte sich der Herzschlag der Menge, als sich linker Hand die kleine Tür öffnete und Amanda und Raffaele mit gesenktem Blick eintraten. Wie immer waren sie von Wachleuten in hell- und dunkelblauen Uniformen umringt, die sie am Arm hielten. Er hatte etwas Eisiges an sich, wirkte emotionslos und zeigte keinerlei Nervosität. Sie hingegen schien sich kaum auf den Beinen halten zu können. Obwohl es ein warmer Abend war und viele kurzärmlig herumliefen, trug sie einen schwarzen Dufflecoat, der ihr inneres Frösteln offensichtlich nicht vertreiben konnte. Es schien sie übermenschliche Anstrengungen zu kosten, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Zwei Polizistinnen hielten ihre Arme umklammert, nicht aus Sicherheitsgründen, sondern, um sie zu stützen. Sie begleiteten sie bis zu ihrem Platz, wo sich Amanda auf ihren Stuhl sinken ließ. Ihr Anwalt Della Vedova legte seine Hand auf die ihre.
Ein paar grausame Minuten verstrichen, was kein böser Wille war, sondern den Vorschriften entsprach. Wir alle, aber besonders Amanda und Raffaele, mussten warten, um etwas zu erfahren, was bereits unwiderruflich entschieden war. In diesem kurzen und doch unendlich langen Zeitraum verharrte das Leben der beiden jungen Leute in einem Vakuum, in das niemand eindringen konnte und in dem keine Handlung mehr möglich war.
Vom Rauschen ihrer schwarzen Roben begleitet, betraten die Richter den Saal. Der Vorsitzende Hellmann hielt die Blätter mit dem Urteilsspruch in der Hand. Vor dem Mikrofon blieb er stehen. Er sah sich um, fragte, ob alle anwesend seien, und erhielt sogleich die Bestätigung.
Mit ruhiger, klarer Stimme begann er zu lesen: »Im Namen des italienischen Volkes …«
Ich schloss die Augen und war mit der Stimme allein. Wie ein Schwert durchbohrte sie mein Bewusstsein: »… gemäß der Artikel … in partieller Revision des vorangegangenen Urteils … wird Amanda Knox für schuldig …«
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Kapitel 13
N ein!« Der lautlose Schrei ließ meinen Kopf fast explodieren. Die Hände zu Fäusten geballt, krümmte ich mich vor Wut zusammen, schier überwältigt von einem Wirbel rasender Gedanken, die mein Hirn wie Blitze durchzuckten. »Wie konnten sie nur?« – »Jetzt ist es aus mit den beiden!« – »Und die neuen Untersuchungen?« – »Und diese Witzfiguren von Zeugen?«
Tonlos fuhr Hellmanns Stimme fort. Ein paar Wortfetzen drangen zu mir durch: »… zu einer Haftstrafe von drei Jahren …« Ich fasste mich und richtete mich ruckartig auf.
»Wie konnte jemand wegen Mordes lediglich zu drei Jahren verurteilt werden?«
Ein Blitz der Erkenntnis durchfuhr mich, und ich verstand: Das Gericht hatte Amanda zu drei Jahren verurteilt, weil man sie der Verleumdung Patrick Lumumbas für schuldig befunden hatte. Wie ich später erfuhr, hatten auch fast alle anderen vergessen, dass die junge Frau ja auch dieses Vergehens angeklagt war. Und in einem Urteilsspruch werden zuerst die Verurteilungen verlesen und dann eventuelle Freisprüche.
Es bedürfte vieler Worte, um zu schildern, was sich in der Zeitspanne zugetragen hatte, die zwischen dem explodierenden »Nein!« in meinem Kopf und dem Moment lag, in dem ich endlich begriff.
In Wirklichkeit hatte das alles vielleicht zwei Sekunden gedauert.
Ich atmete tief aus. Ich fühlte mich erschöpft.
Richter Hellmann fuhr fort: »… werden Amanda Knox und Raffaele Sollecito freigesprochen, da sie die Tat nicht begangen haben …«
Ich sah, wie Amanda auf ihrem Stuhl wie eine leblose Puppe in sich zusammensackte und in hemmungsloses Schluchzen ausbrach. Raffaele rührte sich nicht.
Die Journalisten applaudierten. Höflich, aber bestimmt unterbrach sie der Vorsitzende: »Nein, meine Damen und Herren, bitte …«
Ich sah, wie sich Mignini über seinem Pult zusammenkrümmte, als würde er einen tiefen Schmerz empfinden. Seine Kollegin Manuela Comodi hatte noch vor der Verlesung des Urteils den Saal verlassen.
Ich griff nach meinem Handy und schickte Doug Preston eine SMS : » FREEEEEEEEEEEE !« Als ich den Blick hob, schaute ich in Steve Moores lächelndes Gesicht. Wir sagten kein Wort, doch ich schlug meine Faust mit Schwung gegen seine.
Die Polizei musste Amanda geradezu wegschleifen. Sie sollte ihre Gefühle in ruhiger Umgebung verarbeiten können.
Raffaele umarmte seinen Vater, die Anwälte und
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