Der Engel mit den Eisaugen
Einbruch hatte tatsächlich stattgefunden.
Wir verließen die Piazza mit der fanatischen Menge und nahmen eine breite, völlig menschenleere Straße, die Via Baglioni. Auf dem nahe gelegenen Platz am Ende des Corso Vannucci setzten wir uns im Freien an die Tische des gastfreundlichen Hotel Brufani, das in jenen Tagen zum Hauptquartier der Presse aus der halben Welt geworden war.
David Anderson holte seinen Kasten Champagner. Es wurde sehr spät an diesem Abend.
Am nächsten Tag sah ich Amanda im Fernsehen. Ein schwarzer Mercedes der italienisch-amerikanischen Stiftung von Rocco Girlanda, einem Parlamentarier aus Perugia, der sich für Amanda und Raffaele eingesetzt hatte, hatte sie direkt zum römischen Flughafen Fiumicino gebracht. Von dort gab es nur wenige Bilder, nur sie zusammen mit Madison Paxton und einigen anderen Leuten, wahrscheinlich Vertretern der amerikanischen Botschaft. Es machte ihr Spaß, zum ersten Mal seit vier Jahren wieder eine Rolltreppe hinunterzufahren. Am darauffolgenden Tag sah ich die tränenreichen Bilder, als sie endlich zu Hause in Seattle angekommen war.
Einige Zeit verging, bis ich eines Tages eine E-Mail von ihr erhielt. Sie bedankte sich für alles, was ich für sie getan hatte, und mit aufflackerndem Humor schloss sie: »Außerdem haben ich und du ja etwas gemeinsam …« Sie spielte auf unser beider Gefängnisaufenthalt an, der jeweils von Staatsanwalt Mignini angeordnet worden war. Nur dass meiner so unendlich viel kürzer gewesen war als ihrer.
Raffaele wurde lange Zeit durch seine Familie gegen die exzessive Neugier der Leute und vor allem auch der Medien abgeschirmt. Doch wir sprachen am Telefon miteinander.
Natürlich hatten alle italienischen Medien den Fall des doppelten Freispruchs an herausragender Stelle plaziert. Doch nur die wenigsten – und sicherlich nicht die bedeutendsten – interessierten sich dafür, wie ein so schwerwiegender Fall, der weltweit Interesse erregte, überhaupt hatte zustande kommen können.
»Die Hellseherin« Gabriella Carlizzi konnte ihre Meinung nicht mehr kundtun. Im August 2010 war sie einer unheilbaren Krankheit erlegen.
Die Staatsanwälte beschlossen, am Kassationsgerichtshof in Berufung zu gehen. Dort würde kein dritter Prozess stattfinden, sondern lediglich überprüft, ob alle Vorgänge korrekt abgelaufen waren. Die Entscheidung im Hinblick auf Amanda und Raffaele wird für den 25 . März 2013 erwartet. Erst dann kann der Justizfall rein formal für abgeschlossen erklärt werden.
Beide jungen Leute haben beschlossen, in einem Buch von ihren außergewöhnlichen Erfahrungen und ihren teilweise höchst brisanten Wahrheiten zu erzählen. Raffaele fand in Italien keinen Verleger, der sich bereit erklärt hätte, seine Geschichte zu veröffentlichen. Also wandte er sich mit Unterstützung von Freunden an die amerikanische Agentin Sharlene Martin aus Seattle, die ihm zu einem Vertrag mit Gallery Books verhalf, einem Verlag von Simon & Schuster. Sein Memoire, das er zusammen mit dem englischen Journalisten Andrew Gumbel verfasst hatte, wurde am 18 . September 2012 veröffentlicht und trägt den Titel
Honor Bound: My Journey to Hell and Back with Amanda Knox.
Als bekannt wurde, dass Amanda ebenfalls ein Buch plante, begann zwischen den großen amerikanischen Verlagen ein regelrechtes Wettbieten, das HarperCollins mit einem Gebot von 3400000 Dollar für sich entschied. Auch in diesem Fall zeigte kein italienischer Verlag Interesse, das Buch auf der Apenninhalbinsel zu veröffentlichen.
Am 21 . November 2011 sah ich David Anderson und Frank Sfarzo in Florenz wieder. Sie waren gekommen, um dem Berufungsprozess gegen Giuliano Mignini und Kommissar Michele Giuttari beizuwohnen, der den Polizeidienst inzwischen quittiert hatte. Ich brachte eine gehörige Dosis Skepsis mit.
Das Gericht befand sich direkt gegenüber der Basilica di San Marco, der Kirche mit dem Kloster, das die berühmten Fresken Fra Angelicos birgt. Ich war neugierig, wie diese für die Staatsanwaltschaft peinliche Verurteilung zurechtgerückt werden sollte.
»Ein Freispruch kommt nicht in Frage«, erklärte ein Anwalt, der nicht mit dem Fall befasst war, jedoch gut darüber Bescheid wusste. »Die Beweislage ist zu erdrückend.«
Doch die Spitzfindigkeit der italienischen Justiz gab Zynikern wie mir recht: Da es aufgrund der Beweislage nicht möglich war, die beiden Angeklagten freizusprechen, wies das Gericht die Anklage kurzerhand zurück.
Der
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