Der Engel mit den Eisaugen
eine Gefängniswärterin, offensichtlich eine heimliche Anhängerin.
Alle Mitglieder der Familie Knox hatten tränenüberströmte Gesichter und umarmten sich. Madison Paxton, Amandas wunderbare Freundin, wirkte verwirrt und hörte nicht auf zu schluchzen.
Auf den zwei Treppen drängelten die Journalisten, jeder von ihnen wollte so schnell wie möglich zu seiner Übertragungsstation zurück, um als Erster die
breaking news
zu überbringen, auf die so viele Amerikaner warteten.
Aus Angst, als Zweiter ins Ziel zu kommen, legte so mancher von ihnen zu große Hast und zu viel Phantasie an den Tag. Unglaublich, aber wahr: Nick Pisa, Korrespondent der englischen
Daily Mail,
hat auf der Homepage seiner Zeitung einen Artikel veröffentlicht, der Amandas und Raffaeles Verurteilung schilderte. Um das Ganze noch glaubhafter zu machen, beschrieb er die Reaktionen der Protagonisten, die versteinerte Amanda, ihre Angehörigen, die auf den Stühlen zusammenbrachen, die Staatsanwälte, die gesagt hätten: »Gerechtigkeit ist geschehen.«
Als wir aus dem Untergrund des Gerichts wieder auf die Piazza hinaustraten, wurden wir von den Rufen der Menge überrascht, die zu einem gewaltigen Chor anschwollen. »Schande, Schande!«, schrien die Menschen, Tausende von Stimmen, die auf den Ausgang des Prozesses gewartet und ihn live mitverfolgt hatten.
Einige meiner amerikanischen Kollegen fragten mich, was die Rufe bedeuteten. »Shame«, erwiderte ich angewidert. Entgeistert starrten sie mich an. Sie konnten nicht begreifen, weshalb sich die Menge, fast nur junge Leute, darüber empörte, dass zwei der Ihren, deren Unschuld noch dazu weithin bewiesen worden war, nicht zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt wurden. Für die Journalisten war dies eine weitere Nachricht, die sie in ihren Berichten unterbringen wollten.
Enttäuscht blieb ich mitten in dem Gewühl stehen, von allen Seiten angerempelt, und betrachtete die Szene vor mir. Ich sah die unbesiegbare Blindheit derer, die ihren Verstand nicht benutzen wollen, sah die Verwüstung in den Seelen derer, die sich von verfälschten Informationen hatten manipulieren lassen. Ich sah die vollkommene Unmöglichkeit, jemanden zu überzeugen, der die Wahrheit bereits zu kennen glaubte und in Wirklichkeit doch überhaupt nichts wusste. Ich sah den Fanatismus falscher Gewissheiten.
In jener herrlichen Nacht des 3 . Oktober 2011 , auf dieser Piazza, die in einigen Abschnitten von Scheinwerfern ausgeleuchtet wurde und an anderen Stellen in vollkommener Dunkelheit lag, auf dieser Piazza mit den verschwitzten, verzerrten Gesichtern und den obszön aufgerissenen Mündern wurde es offenbar: Dieser Platz sah nicht nur alt aus, auch seine Seele stammte aus einer längst vergangenen Zeit. Wahrscheinlich lag es an den vielen expressionistischen Schwarzweißfilmen aus Deutschland oder Dänemark, denn plötzlich sah ich nicht mehr das Scheinwerferlicht der Fernsehsender, sondern das Licht von Fackeln, das lange, flackernde Schatten an die Mauern warf und Gesichter bläulich erhellte. Und in meinen Ohren schrien die Stimmen nicht mehr »Schande, Schande!«, sondern »auf den Scheiterhaufen, auf den Scheiterhaufen!«.
Amanda und Raffaele wurden durch einen sicheren Nebenausgang nach draußen gebracht, um die letzten Formalitäten abzuwickeln.
Der gleiche Ausgang wurde auch von den Familienangehörigen und einigen Anwälten genutzt. Raffaeles Verteidigerin Giulia Bongiorno trat durch das Haupttor auf die Piazza. Eine Traube von Carabinieri umgab sie. Man wies sie an, sich zu ducken, damit die Offiziere sie mit ihren Körpern besser schützen konnten, falls man sie mit Gegenständen bewerfen würde. Doch das geschah zum Glück nicht.
Als ich meine Frau und David Anderson sowie meine anderen Freunde entdeckte, umarmten wir uns glücklich. Frank Sfarzo war nach Hause geeilt, um die Neuigkeiten auf seinem Blog zu verkünden.
In Versalien schrieb er: » FREE – THE NIGHTMARE IS OVER «.
Weiter betonte er, die Formulierung der Richter habe gelautet: »da sie die Tat nicht begangen haben«. Vollkommener könne ein Freispruch nicht sein.
Außerdem wies Sfarzo völlig zu Recht darauf hin, Amanda und Raffaele seien auch von der Anklage, ein Verbrechen vorgetäuscht zu haben, freigesprochen worden. Sie hätten das Fenster von Filomena Romanelli also nicht eingeworfen, um etwas zu fingieren. In diesem Fall lautete die Ausführung des Richters: »weil dieser Tatbestand nicht existiert«. Im Klartext: Der
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