Der Engel mit den Eisaugen
Generalstaatsanwalt, der die Anklage eigentlich hätte aufrechterhalten müssen, erklärte in seinem Plädoyer, der erste Prozess samt Verurteilung könne nicht als gültig erachtet werden, da er nicht in Florenz hätte abgehalten werden dürfen. Natürlich schlossen sich ihm die Verteidiger an.
Laut ihren Argumenten, denen auch der Berufungsrichter zustimmte, war Florenz als Gericht für eine Anklage gegen einen florentinischen Staatsanwalt sachlich unzuständig. Daher müssten die Akten nach Genua weitergeleitet werden, wo sich das für in der Toskana tätige Staatsanwälte zuständige Gericht befindet. Nun hatte aber auch die ligurische Staatsanwaltschaft in der Angelegenheit eine Rolle gespielt. Also wurde das Verfahren schließlich an die Staatsanwaltschaft Turin übergeben.
Man könnte annehmen, dass dies unter normalen Umständen wenig ändern würde. Man hätte nur ein bisschen warten müssen, und es wäre erneut zu einer Verurteilung gekommen. Doch in Italien sind die Umstände nie normal. Da die Mühlen der Justiz so extrem langsam mahlen und ein Turiner Richter den Fall noch einmal von vorne würde aufrollen müssen, war abzusehen, dass die Vergehen, deren Giuttari und Mignini angeklagt waren, verjähren würden.
Auf diese Weise würden also beide weder für unschuldig erklärt, noch würden sie je verurteilt werden – ein in meinen Augen extravaganter juristischer Zaubertrick.
Die Plädoyers der Anwälte, die die illegal abgehörten Journalisten vertraten, klangen wie Rufe in der Wüste.
Nur wenig Publikum und lediglich zwei Journalisten wohnten dem Verfahren bei. Als es zu Ende war, verhehlten die beiden Angeklagten ihre Befriedigung nicht. Der ehemalige Kommissar Michele Giuttari, ein Sizilianer mit dunklem Zweireiher und schwarzer Sonnenbrille, rempelte David Anderson im Rausgehen so heftig an, dass dieser beinahe gefallen wäre. Giuttari drehte sich nicht mal um. Der englische Professor hatte den Eindruck, eine Botschaft erhalten zu haben: »Ich weiß, wer du bist.«
Giuliano Mignini blieb weiter Staatsanwalt. Seine erste neue Anklage – keine juristische allerdings – galt den Richtern, die Amanda und Raffaele freigesprochen hatten.
In einem Fernsehinterview erklärte er: »Dies ist ein Prozess, der einem inakzeptablen Druck der Medien ausgesetzt war und dessen Ausgang praktisch schon im Vorhinein angekündigt wurde. Das ist nicht akzeptabel.«
Als ihn der Journalist, der das Interview führte, an die Fehler der Polizei erinnerte, unterbrach ihn Mignini: »Wenn Sie mich fragen, haben allein die Gutachter und die Berufungsrichter Fehler gemacht.«
Amanda war ihm entkommen. Sie war davongeflogen, in die Ferne entschwunden, wenn auch nicht auf einem Besen, sondern in einem Jet.
Und nicht nur ihm war sie entkommen, sondern auch all jenen, die nicht auf Beweise hörten, sondern auf Gerüchte. Amanda musste trotz allem schuldig sein, denn sie war anders. Sie hat sich verhalten, wie sich eine junge Amerikanerin eben verhält. Sie hat sich nicht versteckt, sondern sich ohne falsche Scham gezeigt, doch hat sie damit Gewissheiten einer althergebrachten Ordnung gefährdet, die vielen als unabänderlich gilt und an der sie verzweifelt festhalten. Die Stimme der anonymen Masse, die sie anklagte, das abwegige, obskure Gefasel, das Gerede und der Klatsch über Sex und Amoralität wurzelten in der Angst, jahrhundertelang gültige Konventionen eingebüßt zu haben und sich erneut in Frage stellen zu müssen. Und sie hatte ihre Wurzeln in der Furcht vor den
mala tempora,
einem Gemeinplatz, wonach all die Laster »von Tag zu Tag anwachsen«.
Die Masse wurde von den Medien bestärkt, die nicht selten davon irritiert waren, wie sehr sie sich selbst desavouiert hatten. Und wie frustriert waren sie, dass Amanda ihnen in ihrer neuen Freiheit die kalte Schulter zeigte! Also versuchten sie, weiterhin Zweifel zu schüren.
Das erste Paparazzifoto wurde in mehreren Zeitungen veröffentlicht. Es zeigte eine lächelnde Amanda mit einem jungen Mann auf einer Straße in Seattle, er hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt. Seit ihrer Freilassung waren nur wenige Tage vergangen, und in der Bildunterschrift hieß es, »Foxy Knoxy« habe schon wieder einen neuen Freund.
Dann tauchte ein weiteres Foto auf, das manche gar als skandalös empfanden. Amanda hatte sich als Mann verkleidet und war entsprechend geschminkt, mit einem schwarzen Oberlippenbart, dessen Enden sich bis auf ihre Wangen hochzwirbelten. Sie trug ein
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