Der Engel Schwieg.
sie nicht wein- te…
Er kam gegen sechs in der fremden Stadt an; Milchwagen standen vor den Türen und Tüten mit Brötchen wurden von eiligen Bäckerjungen vor die Stufen gesetzt – er sah die Jungen mit mehlverstaubten Gesichtern, blasse und doch heitere Ge- spenster des frühen Morgens. Aus einer Bar taumelten ein paar Männer und ein Soldat. Er hatte keine Lust, jemand nach dem Weg zu fragen, und ging hinter dem Soldaten her; er blieb ste- hen, als dieser an der Straßenbahnstation hielt und sich zwischen die stummen Arbeiter stellte, die ihn gleichgültig musterten…
Ihm war übel; irgendwo hatte er nachts laue Fleischbrühe ge- trunken und zähe Brötchen dazu gegessen, er war müde und fühlte sich schmutzig, und als die Bahn kam, folgte er wieder dem Soldaten und stellte sich neben ihn auf die Plattform. Er sah jetzt, daß es ein Unteroffizier oder Feldwebel sein mußte; das Gesicht des Soldaten war rot gedunsen und ausdruckslos; unter der steifen Mütze quoll dickes blondes Haar heraus; andere Sol- daten stiegen ein, die ihn grüßten…
Die Straßen belebten sich, Wagen tauchten auf, Fahrräder, und die Plattform füllte sich mit pfeiferauchenden Arbeitern, die sich
stumm irgendeiner Station entgegenschaukeln ließen; Schulkin-
der gingen über die Straße, schwere Ranzen auf den schmalen Schultern – und die Bahn fuhr immer weiter, durch Alleen, Stra- ßen, leerte sich langsam, bis zuletzt nur noch die Soldaten drin waren…
Endlich kam die Endstation zwischen abgemähten Weizenfel- dern und einer großen Gartenwirtschaft und alle stiegen aus, und er folgte dem Feldwebel langsam, während die anderen Soldaten
anfingen zu laufen.
Sie gingen an einem unendlich langen Zaun vorbei, der graue gleichförmige Gebäude umschloß: drinnen hörte er Pfeifen und Brüllen und sah Gesichter an den vielen Fenstern: lustlose graue Gesichter; und dann kam eine Lücke in dieser dichten Reihe Kästen, und der schwarzweißrote Schlagbaum hob sich vor dem Unteroffizier oder Feldwebel. Der Posten grinste, dann wurde das Gesicht des Postens ernster und spöttisch, auch vor ihm hob sich der schwarzweißrote Schlagbaum und er war Soldat…
Plötzlich hörte er in dieser unheimlichen Stille Schritte, er horchte auf und nahm die Zigarette aus dem Mund: sie war un- ten gelblich und feucht geworden; er hielt sie jetzt in der Hand und verfolgte die Schritte: Sie kamen von rechts hinter ihm, waren manchmal weniger deutlich zu hören, dann rollten Steine, und bald hörte er wieder den festen und regelmäßigen Schritt. Endlich tauchte der Mann an der Straßenkreuzung rechts auf: ein Arbeiter mit einer Ballonmütze, die Tasche unter den Arm ge- klemmt – ruhig ging er auf den umgestürzten Straßenbahnwag- gon zu. Es schien unglaublich, fast widerwärtig, daß es hier noch Menschen geben sollte, die zur Arbeit gingen, pünktlich und regelmäßig, die Tasche unter dem Arm…
Er kletterte bis zum Vorgartengitter und wartete.
Der Mann hatte ihn jetzt gesehen, blieb stehen und kam dann mit langsamen Schritten heran; er ging ihm ein paar Schritte entgegen und sagte leise: »Morgen…«
»Morgen«, sagte der Mann vorsichtig, dann blickte er auf die
Zigarette und sagte: »Feuer?«
»Ja«, sagte er…
Der Mann kramte umständlich in seiner Hosentasche, er sah dessen graues Haar, die buschigen, fast weißen Augenbrauen und die dicke freundliche Nase; dann schnappte das Feuerzeug vor seinen Augen und eine rußige Flamme sengte die Zigarette dunkel an…
»Danke«, sagte er, zog das Etui heraus, öffnete es und hielt es dem Mann hin. Der Mann sah ihn erstaunt an, zögernd…
»Bitte«, sagte er, »los…«
Und er beobachtete die zwei groben Finger des Mannes, die sich zögernd spreizten und eine Zigarette nahmen…
Der Mann steckte die Zigarette hinters Ohr, sagte leise: »Dan- ke«, und ging…
Hans blieb rauchend am Vorgartengitter stehen: Er hatte sich angelehnt und wartete – er wußte nicht worauf–, er sah dem
Mann lange nach, der sich weiterbewegte, oft hinter den Schutt- halden verschwand und langsam steigend wieder auftauchte,
dann verschwand er weit hinten in der Allee, wo die Bäume
noch heil zu sein schienen; sie schimmerten grün, es war Mai…
III
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Als er weiterging, begegnete ihm lange Zeit kein Mensch draußen. Die meisten Straßen waren nicht zu begehen. Schutt und Dreck türmten sich bis zu den ersten Stockwerken der leer- gebrannten Fassaden, und aus manchen
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