Der Engel Schwieg.
der Infanterielärm plötzlich sehr nahe kam, sah, daß sie anfingen, ihre Wagen zu beladen, sehr schnell und hastig, und eine Stimme, die Stimme des Richters schrie immer wieder: ›Gompertz, wo ist Gompertz?‹ – und die Stimme schrie vergebens, und kurz bevor sie abfuhren, holten sie ihn aus der Scheune und erschossen ihn. Man hörte es kaum. Granatwer- fer schlugen schon im Dorf ein, und das Knallen der Panzerge- schosse platzte über den Dächern…« – er schwieg einen Augen- blick – »Ein paar Minuten nur war ich allein in dem Dorf, allein mit dem Misthaufen und dem Toten, der keine dreißig Schritt von mir entfernt im Dämmer vor der Scheune lag – er hat ein gutes Geschäft gemacht« – er schwieg wieder, sah auf die bra- ven, blassen Gesichter über den Samtkragen, und fügte leise
hinzu, indem er aufstand: »in dieser Familie werden seit vielen
hundert Jahren gute Geschäfte gemacht, ich weiß…« Er schwieg…
»Mein Gott«, sagte die Frau leise, und es schien ihm zum er- sten Male, als sei sie nicht gleichgültig. »Mein Gott, aber er
fragte Sie doch, ob Sie leben wollten…«
»Jaja«, sagte er, »ich weiß, er fragte mich. Sie fragen immer, sie sind nie im Unrecht…«
Sie sagte ruhig: »Es ist nichts zu ändern, nun müssen Sie le- ben, und eines Tages werden Sie froh sein, Gott wird Ihnen helfen. Ich danke Ihnen für den Rock – fanden Sie den Zettel
schnell?«
»Ich fand ihn, als ich nach Zigaretten suchte.« Sie lächelte. »Waren noch Zigaretten drin?«
»Ja«, sagte er, »zwei…«, und er griff plötzlich in die Tasche des Mantels, ließ das Etui aufschnappen, nahm zwei Zigaretten und warf sie ihr aufs Bett. »Da«, sagte er. Sie blickte ihn er-
schreckt an. »Sonst werden Sie noch sagen, ich sei gut bezahlt
worden für den Botengang, der mich meinen Tod kostete.«
Er wandte sich um und ging, und er hörte, daß sie weinte, als sie ihm nachrief: »Aber Sie müssen doch einen Rock haben – wie heißen Sie, um Gottes willen – wie heißen Sie denn…«
Er blieb an der Tür stehen und sah sie noch einmal an: sie weinte wirklich: »Um Gottes willen, lassen Sie mich doch etwas für Sie tun, wie heißen Sie denn…«
»Ich weiß nicht«, sägte er ruhig, »wirklich, ich weiß nicht,
welchen Namen ich im Augenblick habe, wirklich, ich weiß nicht; zuletzt hieß ich Hungretz – wie ich jetzt heiße, weiß ich nicht, der Zettel ist irgendwo in meiner Tasche… auf Wiederse- hen…«
Er blickte sich nicht mehr um…
In der Diele begegnete ihm die Alte wieder. Sie hatte die Schürze voll Kartoffelschalen. »Ist er tot?« fragte sie leise.
Er nickte.
»Ich dachte es mir«, sagte sie ruhig, »fiel er zuletzt noch?«
»Er wurde erschossen…«
»Mein Gott«, rief sie, »wenn das der alte Herr erfährt – von wem denn, von den Deutschen?«
»Von den Deutschen…«
»Von den Deutschen, um Gottes willen«, sie ging kopfschüt- telnd voran – wieder durch die Diele und den langen dunklen Flur.
»Mein Gott«, sagte sie wieder, als sie draußen standen, »war- um denn von den Deutschen, sagte er etwas wegen dem Sieg oder so?«
»Nein, es war ein Irrtum, er wurde irrtümlich erschössen.«
Sie ging stumm bis zum nächsten Schuttberg und warf die Kartoffelschalen weg, und als er sich einmal umwandte, stand sie immer noch und blickte ihm nach.
IV
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Später fiel ihm ein, daß er jetzt Keller hieß, Erich Keller. Wäh- rend er in der Stadt herumrannte, prägte er sich den Namen ein, murmelte ihn sich vor, lange und eindringlich: Erich Keller. Zwischendurch überlegte er auch, wie er an zweitausend Mark kommen konnte, sich diesen Namen endgültig zu kaufen, bis es soweit sein würde, daß er seinen eigenen wieder würde anneh- men können. In Wirklichkeit hieß er Schnitzler, Hans Schnitzler, die Postkarte damals war an Hans Schnitzler adressiert gewesen, aber bevor er erschossen werden sollte, hatte er Hungretz gehei- ßen, erschossen werden sollte er als Unteroffizier Hungretz; kurz davor hatte er sich ein paar Monate Wilke genannt, Hermann Wilke, Obergefreiter: fast dreiviertel Jahre hatte er eine winzige Urkundenfabrik mit sich herumgeschleppt: einen Dienststempel und einen Packen Formulare, die viel bedeuteten: Marken, soviel er brauchte. Namen, soviel er sich geben wollte: eine Urkunden- fabrik, mit der er eine halbe Kompanie Soldaten hätte illegal marschieren lassen können, eine imaginäre Privatarmee, die nach imaginären Zielen marschierte
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