Der Engel Schwieg.
plötzlich wieder dunkler,
nur eine stille Flamme blieb auf der Kommode neben dem Bett
stehen, sie hatte eine Kerze angezündet…
»Setzen Sie sich«, sagte sie.
Da er nirgendwo einen Stuhl sah, setzte er sich aufs Bett.
»Sie müssen verzeihen«, fing er an.
»Still«, rief sie leise. »Reden Sie nicht mehr davon, bitte!«
Er schwieg und dachte: Ich könnte jetzt gehen, aber ich habe keine Lust zu gehen und außerdem weiß ich nicht wohin. Er sah die Frau an und ihre Augen ruhten einen Augenblick ineinander,
und er sagte: »Es ist noch ganz hell draußen, Sie können die
Kerze sparen.«
Sie schüttelte stumm den Kopf und warf einen Blick auf die Wiege, die mitten im Zimmer stand.
»Verzeihen Sie«, sagte er, »ich werde leise sprechen.«
Sie kniff die Lippen zusammen und ihm schien, als unterdrük- ke sie ein Lächeln; sie sagte sehr leise: »Ihre Stimme wird es nicht aufwecken… nichts wird es aufwecken… es ist tot… schon begraben.«
Die Gleichgültigkeit ihrer Stimme traf ihn wie ein Schlag. Er zuckte zusammen. Er hatte das Gefühl, etwas sagen oder fragen zu müssen.
»Totgeboren?« fragte er und biß sich auf die Lippen.
»Nein«, sagte sie ruhig; sie legte sich mit einem Schwung ins Bett zurück, deckte sich zu und schloß den schwarzen Kragen eng um ihren Hals.
»Es starb«, sagte sie, »als die Amerikaner einrückten, vor drei Tagen; das süße Licht dieser Welt erlosch für seine Augen in dem Augenblick, als mir eine deutsche Maschinenpistole die Fensterscheiben einschoß« – sie zeigte auf die Fenster und er sah, daß sich hinter den zackigen Rändern der Einschußstelle die grüne abgebröckelte Farbe der Läden zeigte; ihr Finger ging
weiter – »die Geschosse zischten oben an der Stuckdecke vorbei
und der feine Gipsstaub bröselte wie Puderzucker auf uns herun- ter…«
Sie schwieg plötzlich und drehte sich zur Wand: sie lag ganz still, er hörte nicht einmal ihren Atem und ihre Schultern er-
schienen steif und unbeweglich wie Holz. »Ich will jetzt schla-
fen«, sagte sie, »ich bin sehr müde.«
»Auf Wiedersehen«, sagte er.
»Wo wohnen Sie denn?«
»Ich weiß nicht«, sagte er zögernd, wartete einen Augenblick und fuhr fort: »ich meine – vielleicht könnte ich in einem Ihrer Zimmer schlafen.«
»Ich habe nur ein Zimmer«, sagte sie ruhig – »In der Ecke ste- hen zwei alte Matratzen und Decken liegen auf dem Schrank.«
Er schwieg. »Hören Sie nicht?« fragte sie, ohne sich umzu- wenden und sich zu bewegen…
»Ja«, sagte er, »danke.« Er fand sofort die beiden alten roten Matratzen, aus denen das grünliche Seegras dumpf riechend
herausquoll; er legte sie auf den Boden, stellte sich auf die Ze- henspitzen, um vom Schrank zwei zusammengerollte Decken
herunterzulangen, die nach Bunker rochen.
»Wenn Sie fertig sind«, rief sie vom Bett her, »machen Sie bit- te die Kerze aus.«
»Ja«, sagte er und als er die Kerze ausgepustet hatte, rief er ihr leise zu: »Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, sagte sie.
Obwohl er müde war, schlief er nicht gleich ein. Es tat ihm sehr wohl, die Beine richtig auszustrecken und zu wissen, daß er einen Ausweis hatte, der zunächst ausreichen würde. Manchmal lauschte er in die Stille, um ihren leisen Atem zu hören, und er beobachtete durch ein Dreieck zwischen den schief hängenden Läden, daß der Himmel draußen langsam dunkler wurde…
Als er wach wurde, war es noch nicht ganz hell, und er fror. Das Licht kam zwischen den schief hängenden Läden durch, so daß oben ein fahles Dreieck Tageslicht entstand; schwach breite-
te es sich im Zimmer aus…
Er lag am Boden so niedrig, daß er sie durch das Untergestell der Wiege im Bett liegen und rauchen sehen konnte. Sie stieß den Qualm in scharfen hellgrauen Stößen in den Bereich des Lichtes, er wirbelte herum wie eine Staubwolke, zog hellgrau an den dunklen Gegenständen im Zimmer vorbei und erschien wie Nebel. Ihr linker Arm hing mit der Zigarette zum Bett heraus, und er sah den bräunlichen Ärmel einer Strickweste, die sehr kleine weiße Hand und den qualmenden Stab der Zigarette; er sah ihr blasses rundes Gesicht, die hellen Haare, wirr um den Kopf, und die Augen, dunkel und still…
Dann erblickte sie ihn und sagte leise: »Guten Morgen.«
»Guten Morgen«, gab er heiser zurück.
»Ist dir kalt?«
Er spürte, wie es ihm seltsam heiß und erschreckend den Rük- ken herunterlief, als er den Tonfall hörte, mit dem sie plötzlich du zu ihm sagte. Es war
Weitere Kostenlose Bücher