Der Engel Schwieg.
fest, und sie spürte, daß sie nicht würde schlafen können. Sie hielt den Kopf nach rechts, hörte, wie er »Pumpen!«
rief, sah, wie er eine Nadel in den dünnen weißen Arm bohrte,
sie wieder herauszog, wieder »Pumpen« rief, mehrmals, mehr- mals die Nadel in den dünnen Arm bohrte und sie wieder he- rauszog: sein grobes Gesicht bedeckte sich mit Schweißperlen, rot und feucht stand es neben dem weißen Gesicht der Nonne, die den Schlauch festhielt und nun ein gläsernes rundes Gehäuse wie eine Eieruhr daran befestigte…
Sie schrie leise auf, als die Stauung an ihrem Oberarm plötz- lich nachließ, und beobachtete mit kühler Spannung, daß der schlappe Schlauch sich füllte, sah, wie ihr Blut oben in dem gläsernen Behälter sich pulsend sammelte, eine dunkle Flüssig- keit, die schäumte und sehr heftig nachzufließen schien…
»Abbinden«, rief der Arzt, »abbinden.« Und sie sah, wie der Spiegel im Glasröhrchen sich senkte und der zweite schlaffe Schlauch, der in den Arm des fremden Mädchens führte, sich mit einer stetigen leise zuckenden Bewegung erfüllte.
Es schien unendlich langsam zu gehen, und sie spürte eine tie- fe unerbittliche Müdigkeit, die jedesmal wieder verflog, wenn ihr gefühlloser rechter Arm plötzlich heftig durchblutet wurde und ihr Blut sich sprudelnd oben in dem Glasröhrchen sammel- te…
»Schön«, murmelte der Arzt ein paarmal, »sehr schön«, und
sie sah auf seinem Gesicht einen Ausdruck, der ihr fremd vor-
kam, den sie nicht erwartet hatte: Freude, wirkliche Freude.
»Schön«, sagte er, »sehr schön, wenn sie das hält…« Manchmal versuchte sie, den Kopf ganz nach rechts zu werfen,
um das Gesicht des Mädchens zu sehen, aber sie blickte nur gegen die dunkelblaue saubere Kutte der Schwester und schrie
wieder leise auf, als der Schlauch mit der Nadel aus ihrer Vene gezogen wurde…
»Schön«, hörte sie den Arzt wieder sagen, »wirklich schön…«
Sie hatte das Gefühl, sich im Kreise zu drehen, erst langsam, wobei ihre Füße den festen Punkt bildeten, inmitten des Kreises, den ihr Körper nun immer schneller beschrieb. Es war wie im Zirkus ungefähr, wo die schlanke Schöne von einem kräftigen Gladiator an den Füßen gepackt und rundgeschleudert, wird.
Zuerst erkannte sie noch die grünliche Wand mit dem roten Tonfleck der Statue und auf der anderen Seite das grüne Licht im Fenster; grün-weiß schob es sich abwechselnd vor ihre Au- gen, aber dann verwischten sich die Grenzen schnell, die Farben vermischten sich, ein sehr helles Grün-weiß rotierte vor ihr oder sie vor ihm, sie wußte es nicht, bis in rasender Schnelligkeit die Farben zusammenflössen und sie sich horizontal zum Erdboden in einem fast farblosen Geflimmer drehte. Zugleich kamen neue Schmerzen hinzu, Ohren–, Leib–, Halsschmerzen: es schien, als ob der Hunger, dieses windige Bohren in ihrem Bauch, magneti- sche Gewalt gehabt hätte, immer neue Schmerzen auszulösen, sie fühlte sich ganz wund, roh und bloß und erkannte mit Schrecken, daß sie das Bewußtsein nicht verlieren würde.
Erst als die Bewegung sich verlangsamte, merkte sie, daß sie auf der Stelle lag, nur ihr Kopf, ihr Kopf schien sich zu drehen, sie hatte den Eindruck, als läge er manchmal seitlich zu ihrem
Körper, ohne Verbindung zu ihr, manchmal zu ihren Füßen, und
für Augenblicke lag er da, wo er hingehörte, oben an den Hals angesetzt. Ihr Kopf schien um ihren Körper herumzurollen, aber auch das konnte nicht wahr sein, sie fühlte mit den Händen nach ihrem Kinn und spürte es, die knochige Erhöhung; auch wenn
ihr Kopf zu ihren Füßen zu liegen schien, spürte sie ihr Kinn.
Vielleicht waren es nur die Augen, sie wußte es nicht, einzig gewiß war der Schmerz, der nun immer mehr zusammen- schmolz, ohne an Substanz zu verlieren, so daß sie ihn nicht mehr zu trennen vermocht hätte nach Hals–, Ohren–, Leib- oder Kopfschmerz; auch die Übelkeit war wirklich fast chemisch wirklich, eine widerlich scharfe Säure, die ihr im Halse hoch- stieg wie in einem Barometer und immer wieder zurückfiel, um langsam zu steigen.
Es nützte auch nichts, die Augen zu schließen; wenn sie die Augen schloß, drehte sich nicht nur der Kopf, dann spürte sie, wie Brust und Beine sich dem verrückten Kreisen der Augen anschlössen. Aber wenn sie die Augen offen hielt, konnte sie mit dem Bewußtsein, das sie nicht verließ, erkennen, daß der Wand- sektor vor ihren Augen immer der gleiche blieb: ein Stück grün- lich
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