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Der Engel Schwieg.

Der Engel Schwieg.

Titel: Der Engel Schwieg. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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getünchter Mauer mit einer schokoladenfarbenen Borde oben und ganz dunkelbraun in das Helle hineingemalt ein Spruch, den sie nicht entziffern konnte. Die Buchstaben schrumpften manchmal zusammen wie jene mikroskopischen Schriften auf den Tafeln der Augenärzte, und schwollen dann an, widerliche dunkelgrüne Würste, die schnell in die Breite gingen, bis sie nicht mehr ihrer Form und ihrem Sinn nach zu fassen waren, sie platzten vor Dicke, entzogen sich der Lesbarkeit und schrumpften im nächsten Augenblick ein, winzig wie Fliegen- dreck, aber sie blieben. Immer gleich blieb dieser Sektor: das helle Grün der Wand, die schokoladenfarbene Borde und die Schrift, ein wechselndes Fett und Mager, und es fiel ihr ein, daß sich auch ihr Kopf nicht drehen konnte, wenn es auch so er- schien…
    Sie erschrak, als sie plötzlich sah, daß sie gerade lag, am glei- chen Fleck wie vorher, ohne auch nur einen Zentimeter verrückt zu sein, und völlig bewegungslos: alles war ruhig, alles gehörte wieder zusammen. Sie sah ihre Brust und das schmutzige braune Leder ihrer Schuhe unten, und ihr Blick fiel gerade auf die Schrift an der Wand, die sie nun lesen konnte: Dein Arzt wird dir helfen, wenn GOTT ihm hilft.
    »Da haben wir die Schweinerei«, hörte sie den Arzt sagen,
    »gleich wird sie kotzen.«
    Wenn ich nur könnte, dachte sie, aber die scharfe Säure stieg immer nur bis zu einem gewissen Punkt in ihrem Hals und wich dann zurück, sie wurde wie von einem Krampf wieder hinunter- gewürgt, von einem Krampf, über den sie keine Gewalt hatte.
    Der Schmerz im Kopf war jetzt stechend, sehr scharf und klar, er schien sich auf einen Punkt über ihrer linken Braue konzen- triert zu haben, und dieses Stechen schien immer wieder die Müdigkeit zu verscheuchen, sie wollte schlafen, schlafen…
    Sie konnte den Arzt nicht sehen, wagte auch nicht, den Kopf zu bewegen, und in ihr waches Bewußtsein fraß sich der Geruch der süßlichen Zigarette, der immer noch in der Luft hing, und
    der Spruch, dunkel- auf hellgrün: Dein Arzt wird dir helfen,
    wenn GOTT ihm hilft. Dann schloß sie die Augen, und das Wort Gott blieb in ihr, erst schien es Schrift zu sein, vier dunkelgrüne große Buchstaben, die in jenem Dunkel hinter ihren geschlosse- nen Lidern standen, dann sah sie die Schrift nicht mehr, und es blieb bei ihr als Wort, sank hinein in sie und schien immer tiefer zu fallen und blieb doch, es fiel, fiel, fand keinen Boden und stand plötzlich wieder oben bei ihr, nicht Schrift, sondern Wort: Gott.
    Gott schien der einzige zu sein, der bei all diesen Schmerzen, die sich nicht mehr trennen ließen, bei ihr blieb. Sie spürte noch, daß sie anfing zu weinen, es tropfte heiß und schnell aus den Augen über ihr Gesicht, und aus der Art, wie die Tränen fielen, ohne daß sie sie unten am Kinn oder am Hals spürte, merkte sie, daß sie nun auf der Seite lag. Die Müdigkeit schien ihr jetzt größer zu werden als der Schmerz, die Tränen schienen den Schmerz zu mildern, und sie wußte, daß sie nun einschlafen würde…

XII
–––––––––

    Fischer zog den Vorhang beiseite und stellte die Madonna auf einen Stoß dicker Bücher, so ins Licht, daß sie von allen Seiten bestrahlt wurde. Er lächelte. Immer noch nicht verzieh er sich, daß er bisher von ihrer Existenz nichts gewußt hatte. Jahrelang hatte sie also in einer Kirche gestanden, die nur eine Viertelstun- de von seiner Wohnung entfernt lag, und er hatte sie nie ent- deckt. Allerdings war sie in der Sakristei verborgen gewesen, unter Weihrauchfässern, geschmacklosen Monstranzen aus der Rokokozeit und reizlosen Gipsfiguren. Diese kleine Madonna aus dem fünfzehnten Jahrhundert war reizend, ihr Wert in Geld kaum abzuschätzen, und sie zu besitzen, war wunderbar. Er war glücklich, er lächelte leise, und zum ersten Male dachte er, daß wohl doch ein realer religiöser Kern an dieser Madonnenvereh- rung war, die das Volk betrieb: diese seltsam schmelzende süßli- che Anbetung, die ihn bisher immer angewidert hatte, ohne daß er hätte den Grund aussprechen können…
    Die Plastik vor ihm, ganz im Licht stehend, mit ihrer kräftigen roten und goldenen Bemalung, war von einer entzückenden Einfachheit des Gefühls: dieses Gesicht war wirklich jungfräu- lich, schön und mütterlich: er hatte es noch nie entdeckt, noch nie gesehen, daß diese drei Eigenschaften zusammenfielen: hier war es eindeutig: jungfräulich, schön und mütterlich und mit einem schmerzhaften Zug, der weder

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