Der Engel Schwieg.
Jungfräulichkeit noch Schönheit noch Mütterlichkeit verzerrte: Schmerz und jene Tri- nität der Eigenschaften, die er aus theologischen Abhandlungen und der lauretanischen Litanei kannte, aber noch nie dargestellt gesehen hatte.
In diesem Augenblick – obwohl er keine Neigung zu über- schwenglichen Gefühlen hatte – erschien sie ihm das schönste von all seinen vielen Kunstschätzen, dieses geschnitzte und bemalte Stück Lindenholz, das kaum so groß war wie ein Lexi-
konband und nun aus dem Schutt der Sakristei herausgezogen
war: die prachtvollen tiefen roten und goldenen Farben etwas
verkratzt. Er ging langsam um den Schreibtisch herum und be- trachtete sie von jeder Seite eingehend: es war kein Fehler an ihr zu entdecken, nirgendwo eine Verkrampfung oder Übertreibung in der Darstellung, in der natürlichen Schönheit der Gestalt, im Mantelwurf, in der Haltung der Arme, der Neigung des Halses; und der seltsam demütige Stolz, mit dem sie den Nacken hielt und den Kopf trug, diesen außergewöhnlich schönen Kopf, der jene paradoxe Trinität ausdrückte, die ihm nun zum ersten Mal nicht paradox erschien. Sogar das Kind auf ihrem Arm gefiel ihm, obwohl er sonst eine Abneigung gegen Darstellungen des Jesuskindes hatte, sie waren meistens mißlungen, zu süßlich oder zu grob – wie ihm auch lebendige Kinder zu süßlich oder zu grob erschienen, kitschig oder plump.
Er trat näher und betrachtete das kaum zeigefingergroße Rind auf dem Arm der Muttergottes näher. Trotz allem mußte er einen leichten Ekel überwinden: insgeheim tadelte er die Künstler, die
so kleinen Statuen auch noch proportionsgerechte Kinder in den
Arm legten – sie erinnerten ihn immer an Embryos.
Er biß sich auf die Lippen, zog hastig seinen Sessel näher und setzte sich: er spürte, daß er blaß geworden war und die Reihe glücklicher und heiterer, fast religiöser Gedanken jäh unterbro- chen war, und wieder erfüllte ihn dieses andere Gefühl: ein Ge- misch aus Langeweile und Ekel. Sein Blick ruhte weiter auf der kleinen Statue, aber er sah sie nicht mehr…
Er schrak zusammen, als es klopfte, nahm die kleine Figur schnell vom Tisch weg und setzte sie auf den oberen Rand des Bücherregals hinter eine Reihe großer Bände, wo sie ganz ver-
deckt wurde…
»Herein«, rief er.
Schon als er die Druckfahnen in der Hand seines Sekretärs sah, kam wieder die Langeweile hoch: eine unendlich sanfte Ver- zweiflung mit einer unendlich sanften Bitternis gemischt.
»Die Korrekturfahnen, Herr Doktor«, sagte der junge Mann,
»für die erste Nummer des Gotteslammes, eben angekommen.« Der junge Mann blickte ihn erwartungsvoll an, ein blasser
schmächtiger Kerl, der devot und intellektuell zugleich aussah,
eine Verbindung, die er sonst liebte, die ihm heute aber wider- wärtig erschien.
»Danke«, sagte er, nahm die rauhen Bogen in Empfang, »es ist gut.«
An dem seltsam gekrümmten Rücken, dem verzogenen Nak-
ken sah er, daß der junge Mann gekränkt war.
Nun ja, dachte er, als der Sekretär hinausgegangen war, diese erste Nummer des Gotteslammes war eine Leistung: Papier- knappheit, Lizenzschwierigkeiten, die verzweifelte Suche nach Autoren und einer leistungsfähigen Druckerei in dieser Stadt, die wie ausgestorben erschien – alles war in sechs Wochen mit der leidenschaftlichen Hilfe des jungen Mannes überwunden worden
dazwischen war noch das verrückte Datum der Kapitulation gefallen, das neue unerwartete politische Schwierigkeiten brach- te. Trotz allem war es gelungen, diese erste Nummer des Gottes- lammes erscheinen zu lassen.
Er nahm die Bogen gelangweilt vor und ließ sie einzeln durch seine Finger gleiten. Nun, das alles würde der Sekretär machen, die Korrektur lesen, den Umbruch anordnen; er legte die Blätter
beiseite und hielt nur das Titelblatt in der Hand: es zeigte eine
schauerlich kitschige Gotteslammvignette, die schon seit fünfzig Jahren den Kopf des Blattes zierte; in allen Bibliotheken und in den Bücherschränken der katholischen Familien konnte man sie sehen: sie quollen aus Mappen, lagen staubbedeckt oben auf Schränken und in Abstellräumen, Millionen Exemplare, die diese Vignette zeigten: eine wahrhaft gräßliche Graphik: ein kurzgeschorenes Lamm mit müdem Gesichtsausdruck und devot gesenktem Schwanz, an dessen Hals ein Wimpel mit einem Kreuz gelehnt war.
»Der hochwürdigste Herr Kardinal bittet Sie, diese kleine Fi- gur als Geschenk entgegenzunehmen, weil es Ihnen gelungen ist, trotz aller
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