Der Engel Schwieg.
sie warf das Beil in eine Ecke und ging wieder in die Küche zurück…
Es war dann sehr still, es war fast ganz dunkel geworden, die Schatten im Zimmer waren blau, fast wie dunkler Rauch, sie setzten sich in den Ecken fest, er konnte nichts mehr sehen als gerade die Umgebung des Bettes, alles schmutzig, die defekten Wände, und er sah jetzt zum ersten Male, daß die Decke ein richtiges Loch hatte.
Er stand auf, ging leise zur Tür und machte sie vorsichtig auf. Aus der Küche kam Licht. Der alte blaue Mantel, den sie vor die
Scheibe gehängt hatte, ließ an den löcherigen Stellen große gel-
be Kreise von Licht sehen, und die Strahlen fielen in den Schmutz der Diele: irgendwo blinkte die Schneide des Beiles, und er sah die dunklen Holzklötze, deren Schnittflächen gelblich leuchteten. Er ging langsam näher und sah sie jetzt, und es fiel ihm ein, daß er sie noch nie so gesehen hatte. Sie lag auf dem Sofa, hatte die Beine hochgestellt, mit einem großen rötlichen Tuch umwickelt und las. Er sah sie von hinten, die langen feuchtglänzenden Haare erschienen dunkler und rötlich, sie fielen über die Lehne des Sofas, neben ihr stand die Lampe, und der Ofen brannte: auf dem Tisch lag eine Packung Zigaretten, stand ein Marmeladenglas, ein angeschnittenes Brot und daneben das Messer mit dem schwarzen losen Griff…
Plötzlich wußte er, daß er sie sein Leben lang sehen würde. Es ergriff ihn etwas wie Schwindel, er konnte sie sich gut als alte Frau vorstellen, immer noch schlank, die Haare grau, und das runde, etwas spöttische Gesicht. Diese Erkenntnis berührte ihn sehr tief und schmerzlich, und er spürte etwas Unerbittliches, es war, als habe jemand in eine verborgene Stelle seines Inneren kaltes Wasser gegossen von jener Sorte, wie es die Zahnärzte in die angebohrten Zähne schütten: es war sehr wohltuend und zugleich schrecklich. Er hatte das Gefühl, sie schon vor langen Jahren so gesehen zu haben und sie in zwanzig Jahren zu sehen, immer wieder – er war aus dem Bett aufgestanden, hatte etwas Unwiderrufliches getan, etwas, was nicht rückgängig zu machen war: er hatte das Leben angenommen, und es drängte sich für ihn hier zusammen: eine kurze Spanne Unendlichkeit, die voll Schmerz und Glück war…
Sie rauchte die Zigarette aus einer Spitze, die sie offenbar im Mund hielt: manchmal wandte sie sich um und stieß mit einer habichtartigen Bewegung den Kopf nach unten, um die Asche abzuschütteln. Er sah ihr scharfes und zugleich sehr sanftes Profil und hatte plötzlich wieder den Wunsch, sie zu küssen. Aber er blieb stehen: er wußte wohl, was es bedeuten würde, wenn er in die Küche trat: er würde leben müssen: eine unendli-
che Last von Tagen auf sich nehmen, die nicht mit ein paar Küs-
sen zu bezahlen war; auf die Plattform des Alltags steigen, diese Tribüne des Schwarzhandels, Arbeitens oder Klauens, während er gedacht hatte, er könnte unter der Tribüne schlummern, im Schatten und unter dem Getrampel der Spieler…
Er wußte, noch war Zeit, zu verschwinden, leise die Treppe hinunterzusteigen und in die Nacht zu gehen. Vielleicht würde sie nicht einmal sehr traurig sein, sie rechnete sicher nicht mehr
damit, daß er zurückkommen würde…
Er wußte nicht, daß er lächelte. Er sah sie zum ersten Male, schien ihm: er hatte immer noch ihren Mantel an, er trug ihn, weil er keinen Rock mehr hatte. Er roch nach ihr. Es war sehr still, sie blätterte langsam die Seiten um, legte dann die Zigaret- tenspitze weg und er sah jetzt, daß sie auf ihrem Bauch eine Tasse stehen haben mußte. Das Feuer im Ofen war heftiger ge- worden, er hörte es fauchen, und auch oben in dieser Ruine heul- te der Wind: oben an dem schadhaften Dach und in den zerstör- ten Teilen des Hauses fegte der Wind Steinbrocken und Putzre- ste herunter, die klatschend in den anderen Dreck fielen.
Sie hatte die Tasse auf den Stuhl gestellt und las weiter. Sie las sehr langsam, es machte ihn ungeduldig, und während er sie beobachtete, fiel ihm ein, daß er einmal Buchhändler gewesen war und eine andere Frau gehabt hatte, die mit ihm zusammen gearbeitet hatte. Er war manchmal mit ihr im Kino gewesen oder hatte sie nach Hause gebracht, wenn sie Kurse gehabt hatten – es lag alles unendlich fern, in einem anderen Leben, er konnte sich nicht vorstellen, daß er jemals etwas ernst genommen hatte: einen Kursus, einen Beruf – er entsann sich seiner brennenden hemmungsvollen Schüchternheit, wenn er sie nach Hause ge- bracht
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