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Der Engel Schwieg.

Der Engel Schwieg.

Titel: Der Engel Schwieg. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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leicht geworfen hatte. Der Lack war stellenweise schon heruntergebröckelt, und es liefen weißliche Striemen über das Gesicht Mariens – nur die Blumen waren frisch und schön, wunderbare große Nelken mit fetten Köpfen, die in prallen Kap- seln standen…
    Er versuchte zu beten, aber im gleichen Augenblick erschrak er: er hörte Gesang, unter sich, aus der Erde kam er. Der Schauer war nur kurz, denn es fiel ihm die Krypta ein, die wohl unbe- schädigt war, und er lauschte dem Gesang: die Stimmen klangen dünn, gefiltert, engelhaft, es schienen nur wenige zu sein, sie sangen ohne Begleitung, und als er den Text des Liedes erkann- te, auch die Melodie, fiel ihm ein, daß Mai war, immer noch Mai, – der Monat, in dem der Krieg zu Ende gegangen war…
    Er hörte an den Stimmen, daß sie gerne sangen: an die erste Strophe schloß sich die zweite an, dann die dritte, und er bedau- erte es, daß plötzlich Schluß war; es blieb still und die Stille fiel auf ihn, bedrückte ihn: er hätte gewünscht, sie hätten weiterge- sungen.
    Er hatte Angst, die klaffenden Risse erschienen ihm plötzlich bedrohlich, er fühlte, sie könnten sich erbreitern, das Gewölbe
    stürzen und ihn begraben mit diesen verstümmelten Figuren; der
    Schweiß brach ihm aus: wirklich, die Gewölbe schienen sich zu neigen – er stand auf, bekreuzigte sich hastig und lief bis zur Tür und über den Fliesenweg bis an das schwere eiserne Gitter…
    Auf der anderen Seite des Chores hörte er die Leute heraus- kommen: sie lachten und sprachen miteinander, und dann sah er sie: eine kleine Gruppe grauer Gestalten, die sich rasch verteilte, und von der nur die schwarze des Priesters übrigblieb…
    Er setzte sich auf den steinernen Sockel des Gitters und warte- te. Er wußte, daß die Pfarrhäuser hinter ihm lagen, und hatte eben gesehen, daß sie bewohnt waren. Obwohl er den Hunger kaum noch spürte, nur wie ein nagendes leicht berauschendes Gefühl, nahm er sich vor, den Priester um etwas zu bitten, um Brot oder Kartoffeln oder eine Zigarette. Er sah die Gestalt näher
    kommen, von unten gesehen wirkte sie groß, der schwarze Rock
    flatterte um die Beine, zwei Schuhe, groß und gebogen, arm und häßlich…
    Der Priester erschrak, als sich plötzlich eine Gestalt vor ihm aufrichtete, sein mageres und zugleich verquollenes Gesicht
    verzog sich nervös, und er krampfte seine Hände um das dicke
    Choralbuch…
    »Verzeihen Sie«, sagte Hans, »können Sie mir etwas zu essen geben?«
    Sein Blick fiel über die schrägen Schultern des Priesters an groben Ohren vorbei auf den Platz vor der Kirche: blühende alte
    Bäume, deren Stämme von Schutt halb verdeckt waren…
    »Gewiß«, hörte er den Priester sagen. Die Stimme war heiser und schwach, und er sah ihn jetzt an: ein Bauerngesicht, das mager und kräftig war, eine dicke Nase und merkwürdig schöne Augen.
    »Gewiß«, sagte er noch einmal, »wollen Sie hier warten?«
    »Ja«, Hans setzte sich wieder: er war erstaunt. Er hatte die Bit- te ausgesprochen, weil ihm eingefallen war, daß der Priester wenigstens würde versuchen müssen, ihm zu helfen, aber daß es
    jemand geben konnte, der ihm sofort etwas zu essen zusagte,
    erstaunte ihn…
    Er blickte der Gestalt nach, die die Straße überquerte, ihm vom Treppeneingang her noch einmal zuwinkte…
    Die Aussicht, etwas zu essen zu bekommen, hatte den Hunger wieder lebendig gemacht; er kam hoch: dieses seltsam heftig
    gähnende Nichts, das seine Backen wie in einem Krampf zu- sammenfahren ließ: diese Wolke aus Luft, dieses fordernde
    Aufstoßen, das einen üblen Geschmack im Munde hervorrief
    und ihn zugleich mit Hoffnungslosigkeit erfüllte: Essen, dachte er, ist eine unerbittliche Notwendigkeit, die mich mein Leben verfolgen wird; dreißig, vierzig Jahre lang würde er noch täglich essen müssen, mindestens einmal, Tausende von Mahlzeiten waren ihm noch auferlegt, die er sich besorgen mußte irgendwie: eine hoffnungslose Kette von Notwendigkeiten, die ihn mit Schrecken erfüllte. An diesem Tage schleppte er sich schon neun
    Stunden vergeblich durch die Trümmer der Stadt und hatte
    nichts bekommen, nicht einmal das, was ihm versprochen gewe- sen war. Ein schrecklicher Kampf, den er also noch viele tau- send Male würde kämpfen müssen, und nicht für sich allein; zum ersten Male dachte er an Regina, und ihr Bild stand deutlich vor ihm, unerbittlich schön und zwingend: das blonde Haar und ihr blasses Gesicht, leicht von Spott verzogen, wenn es in der

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