Der Engel Schwieg.
dunklen Höhlung der Tür aufgetaucht war, um zu fragen: Willst du etwas Brot – willst du eine Zigarette? Er sehnte sich nach ihr, ganz plötzlich und heftig, schmerzlich, und er stellte sich vor, daß er sie küssen würde…
Das Lächeln auf dem Gesicht des Kaplans erschien ihm über- irdisch, fast so unwirklich wie der helle und reine Gesang, der aus der Krypta zu ihm hochgestiegen war. Er fühlte sich an der
Schulter gezogen und mitgerissen, Schwäche ergriff ihn, und er
taumelte leicht, als er der eilenden Gestalt nachfolgte. Sie um- kreisten die Rundung des Chores, ein Halbzirkel, der ihm unend- lich weit erschien, stiegen die Treppe hinunter; er spürte die Kühle der dicken Mauern und schrak zusammen, als ihm der Kaplan die nassen Finger mit dem Weihwasser auf die Handflä- che legte…
»Sind Sie katholisch?« fragte der Kaplan, als er sich bekreu- zigte.
»Ja«, sagte er, »ich bin in dieser Kirche getauft.«
»Nicht möglich.«
Sie blieben im Eingang stehen.
»Doch. Wirklich.«
»Mein Gott, dann sind Sie ja…«
»Ja«, sagte er seufzend, »es war meine Pfarrkirche, bis ich in den Krieg ging.« Flüchtig dachte er an die weit entfernten Sonn- tage, die er an der Seite seiner Mutter im Halbdunkel dieses
wohltuenden romanischen Raumes verbracht hatte…
»Und jetzt?« fragte der Kaplan.
»Jetzt wohne ich draußen in einem Vorort…«
»Kommen Sie.«
Er folgte dem Kaplan in das düstere Gewölbe, in dem die Bän-
ke eng nebeneinander standen: nur schwaches Tageslicht fiel
herein, und vorne flackerte die winzige rötliche Flamme des Ewigen Lichtes vor dem Tabernakel. Der Kaplan winkte ihm, in die Sakristei zu folgen, und er neigte vor dem Altar nur den Kopf, weil er zu müde war, die Knie zu beugen. Drinnen war es heller, eine Glühbirne brannte, und auf dem müden Bauernge- sicht des Kaplans wirkte das Lächeln wie eine Grimasse des Schmerzes…
»Sie machen mir eine Freude«, sagte der Kaplan.
Er deutete auf eine dunkelbraune Bank vor einer niedrigen Garderobe, deren Vorhang nicht geschlossen war: bunte Chor- knabenröcke und die langen weißen Spitzengewänder der Prie- ster sah er, alles schien etwas staubig zu sein.
»Ja, ja«, sagte der Kaplan eifrig, und sein müdes Gesicht ver- zerrte sich etwas vor Begeisterung. »Genau so ist es: eine Freude machen Sie mir.«
Er schob eine Tür auf und drückte ein paar Rollen staubiger Zeichnungen beiseite. »Ich bin heute noch von niemand um etwas gefragt worden und habe noch zwei Päckchen von der Opferung heute morgen hier – mal sehen.«
Seine schwarzen Ärmel fuchtelten nun ganz nah vor Hansens Gesicht herum, legten ein paar braun eingewickelte Paketchen
auf den Tisch, und der Kaplan sagte: »Nehmen Sie es, so wie es
ist, und denken Sie: es ist nicht von mir, nicht mir haben Sie zu danken…«
»Wem denn?«
»Danken Sie Gott – unbekannten Menschen – der – er –« sein Gesicht rötete sich ein wenig vor Verlegenheit – »der lebendigen Kirche, kann man wohl sagen« – seine Augen wurden schmal vor Erregung, »Sündern vielleicht, vielleicht Heiligen – ich weiß nicht, Armen – vielleicht sogar Reichen…«
Hans nahm die Pakete vom Tisch und versuchte, die Schnüre zu entfernen, aber seine Finger waren kraftlos, er spürte, wie ihn eine plötzliche Schwäche lähmte.
»Ich kann nicht«, sagte er, »bitte tun Sie es.« Die breite Hand
des Priesters zog eine Schlinge los, wickelte sorgfältig die
Schnur ab und enthüllte den Inhalt: ein runzeliger kleiner Apfel
rollte über den Tisch, eine dicke Scheibe Brot, sehr dick, fast so dick wie das Meßbuch, das daneben lag, eine in Seidenpapier gewickelte Zigarette, und ein Paar Militärsocken, sauber gewa- schen und gestopft, das leuchtende Weiß der Ringe zog sich rundherum…
»Da«, sagte der Kaplan, »da.«
Hans versuchte mit den Fingern das Brot zu ergreifen, aber es gelang ihm nicht: es schien unendlich dick zu sein; die Kruste, braun und rund, zog sich herum wie die Umwallung einer Fe- stung, und es war sinnlos, danach zu greifen, seine Hände waren zu klein. Die Zigarette lag da auf der glatten Fläche des Tisches wie eine riesige weiße Papperolle, eine Reklamezigarette, die von einem hohen Giebel heruntergerollt war, zu groß, seine Hände lagen auf dem Tisch, ganz klein und schmutzig, sehr weit entfernt, und auch die Stimme, die er hörte, war sehr weit. Die Stimme sagte: »Trinken Sie.«
Er spürte, daß etwas in ihn hineinfloß, mild und kühl und doch Wärme
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