Der Engel Schwieg.
vom Mund – »aber ich nahm mir das Recht, weil ich Ihre Frau kenne und bei meinem Besuch fest- stellte, daß Sie es waren, der neulich in der Krypta bei mir war… wir haben sie räumen müssen, wie Sie sehen – der große Giebel der Oberkirche ist eingestürzt, und die Decke der Krypta wies Risse auf –«
»Ich habe es gesehen«, sagte Hans.
»Diese Kirche ist sehr häßlich« – er zuckte die Schultern, of- fenbar sprach er lieber von etwas anderem als von dem, was er sich vorgenommen hatte. »Es ist der Rest einer Krankenhauska- pelle – Sie wußten nicht, daß ich Ihre Frau kannte?«
»Nein…«
»Ich habe Ihr Kind beerdigt…«
»Es war nicht mein Kind…«
»So« – er räusperte sich und fingerte nervös an seiner Pfeife herum, die nicht zu ziehen schien – »ich habe es beerdigt. Ihre
Frau ist sehr gläubig.«
»So?«
»Sie wußten es nicht?« Er nahm die Pfeife aus dem Mund und blickte Hans mit ehrlichem Entsetzen an.
»Nein«, sagte Hans, »ich wußte nicht, daß sie so sehr gläubig ist. Wir haben erst einmal sehr kurz über religiöse Dinge gespro-
chen…«
»Und Sie sind nicht verheiratet… nicht kirchlich?«
»Nein – auch nicht amtlich.«
Der Kaplan machte Hm und steckte die Pfeife wieder in den Mund, der Tabak brannte schlecht, und durch das dauernde hef- tige Ziehen befiel ihn eine kleine Atemnot. Es dauerte eine Zeit- lang, bis der Tabak endlich durchglühte und wirkliche Wolken aufstiegen.
»Sehen Sie«, sagte er, »ich habe mich einige Male schon mit Ihrer Frau unterhalten, auch bevor Sie hier waren. Sie ist wirk- lich gläubig, sogar fromm – wußten Sie es nicht, wirklich
nicht?«
Hans schüttelte stumm den Kopf. Der Tabak war stark, offen- bar selbst gezogen und flüchtig getrocknet; es befiel ihn leichter Schwindel, und die Müdigkeit stieg in ihm auf wie ein Gift, das sich langsam verbreitete und alle Öffnungen des Bewußtseins verstopfte. Er trank einen Schluck Kaffee, sah, daß der Kaplan den Arm hob, um noch einmal einzuschenken, und blickte un- willkürlich weit in den schlapphängenden schwarzen Ärmel hinein, sah einen behaarten muskulösen Arm und den zusam- mengerollten Hemdärmel oben an dem Ellenbogen und dachte: Warum rollt er nicht den Ärmel herunter, wenn er friert. Das heiße Getränk belebte ihn wieder, und er hörte jetzt, daß der Kaplan weitergesprochen hatte, einige Sätze, die er nicht gehört hatte, denn in diesem Augenblick sagte er – »Die Sakramente, ich verstehe nicht, wie man glauben und auf die Sakramente verzichten kann. Haben Sie eine Begründung dafür, wie?« Aber er erwartete offenbar keine Antwort. »Sie glauben doch auch, wie?« Der Kaplan sah ihn scharf an und wiederholte lauter und schärfer die Frage: »Sie glauben doch?« Offenbar erwartete er
auf diese Frage eine Antwort.
»Ja«, sagte Hans, ohne zu überlegen. In Wirklichkeit fiel ihm jetzt erst ein, daß er im Grunde genommen nie aufgehört hatte zu glauben. Alle diese Dinge waren ihm selbstverständlich, wenn auch oft die Müdigkeit so groß gewesen war, daß sie belanglos erschienen.
»Immerhin«, der Kaplan lächelte, »immerhin ist das nicht we- nig –« Er lächelte stärker und es legte sich wieder der Glanz einer unnahbaren Torheit über sein Gesicht, und er legte die Pfeife endgültig aus der Hand. »Und Sie haben einen Fürspre- cher, einen so wirksamen, daß Sie seinen Bitten wahrscheinlich nicht werden entfliehen können.«
Hans blickte ihn starr und verständnislos an. Er schüttelte den Kopf und stammelte langsam: »Meine Mutter, gewiß…«
»Nicht nur Ihre Mutter – Ihren Vater vielleicht… und man- chen, von dem Sie nichts wissen, aber einen haben Sie gewiß, ganz gewiß. Ich sage Ihnen, man kann zu diesen Kleinen beten –
es ist eindeutig, theologisch über jeden Zweifel erhaben, daß
sie bei Gott sind, verstehen Sie?« Hans schüttelte den Kopf.
Der Kaplan sah ihn entgeistert an, er sagte erschreckt, die Au- gen zusammenkneifend: »Das Kind – begreifen Sie denn nicht?«
Ach so, dachte Hans, er spielt auf das Kind an. Es gab Tage, an
denen er nicht daran dachte, während es manchmal ihn wie ein schrecklicher Schmerz begleitete, ein unsagbares Weh, für das er keinen Namen kannte. Er blickte den Kaplan an und sagte: »Ja, ja – aber es war nicht mein Kind…«
»Immerhin – Sie leben mit seiner Mutter in einer Gemein- schaft, wie es keine innigere unter Menschen gibt.«
Es war ihm klar, daß das Kind im Himmel war. Daran zweifel- te er
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