Der Engelmacher
stellte ein Arzt fest, der im Stau gestanden hatte und sofort zum Ort des Geschehens geeilt war. Diese Nachricht war der einzige Trost, der seinen Eltern vergönnt war, aber es war ein schwacher Trost. Sie hatten ihr einziges Kind verloren.
Victor Hoppe stand am Fenster, in einem Zimmer im ersten Stock, und beobachtete das Geschehen. Alle schienen sich auf den Jungen stürzen zu wollen wie auf eine Beute, die mitten auf offener Straße lag. Eine grausige Beute freilich, sodass man doch ein paar Meter Abstand wahrte, wodurch ein breiter Kreis um den Körper herum entstand. Victor spähte auf die bedrückten Gesichter hinab, die sich immer wieder abwendeten, um dann doch wieder die Beute zu fixieren. Der hinzugeeilte Mann ist sicher ein Arzt, vermutete Victor. Und die Beute war ein Unfallopfer. Nun wurde ihm auch der Zusammenhang klar zwischen den Geräuschen, die er kurz zuvor gehört hatte, und dem Linienbus, der gleich neben dem Unfallopfer hielt.
Die Geste des Arztes kannte er. Ein Leben war genommen worden. Es war einfach, ein Leben nehmen. Es war überhaupt keine Kunst. Es war viel leichter, als ein Leben zu schenken. Ein Leben nehmen konnte man im Handumdrehen. Sogar unabsichtlich. Das wusste er inzwischen.
Victor sah weiter fasziniert zu, die Hände auf dem Rücken.
Die Diagnose des Arztes verursachte Aufruhr in der Menge. Köpfe wurden geschüttelt und gesenkt, die Leute schlugen die Hände vors Gesicht. Ein paar Jungs standen zitternd da und heulten.
Einer löste sich aus der Gruppe und lief davon. Victor Hoppe erkannte ihn, es war Fritz Meekers. Laut heulend rannte der Junge zum Dorfplatz. Da lagen in etwa drei Meter Abstand voneinander zwei Stapel mit Jacken auf dem Boden: das Tor. Und knapp daneben lag ein Ball. Fritz lief auf den Ball zu. Mit seinen langen Beinen glitt er über den Asphalt hinweg, ja er schien fast zu schweben, als höbe sein eigenes Geschrei ihn vom Boden. Mit der vollen im Anlauf gesammelten Kraft katapultierte er den Ball in die Höhe und begleitete dessen Flug mit einem lang gezogenen Schrei. Fritz sah dem Ball nicht nach. Er sackte in sich zusammen und sank schließlich mit gesenktem Kopf auf die Knie. Seine Schultern fingen wieder an zu zittern. Leute liefen zu ihm.
Victor wandte den Blick ab und sah wieder zu dem Unfallopfer hinüber, von dem er nun sicher wusste, dass es einer der Jungen aus dem Dorf war.
Jemand brachte eine Decke. Der Arzt breitete sie über das Unfallopfer, bis nichts mehr vom Körper sichtbar war. Der Tod muss immer so schnell wie möglich zugedeckt werden, dachte Victor. Ausradiert wie ein Schreibfehler.
Die ersten Menschen machten sich bereits wieder auf den Weg. Die Vorstellung war zu Ende. Sie stiegen in ihr Auto oder in einen Bus und wurden wieder normale Touristen, unterwegs zum Dreiländereck. Ein imaginärer Grenzpunkt, wusste Victor, ein Produkt der menschlichen Einbildungskraft. Imaginär, und doch gab es ihn. Alle wollten ihn mit eigenen Augen sehen, obwohl es dort eigentlich gar nichts zu sehen gab. Und doch bot die Vorstellung Halt. Das Dreiländereck war genau wie Gott. Der Mensch wurde von der Vorstellung angezogen, zugleich aber auch davon betrogen.
Dann aber stiegen die Leute plötzlich doch wieder aus.
Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Victor blinzelte kurz. Die Gruppe von Menschen um das Unfallopfer wich auseinander und machte der Frau Platz, die da angerannt kam. Victor erkannte sie: Vera Weber. Jetzt wusste er auch, wer der Junge war, den es getroffen hatte. Der Arzt hatte sich aufgerichtet und versuchte, die Frau aufzuhalten. Er schüttelte den Kopf und wollte sie an den Schultern festhalten, aber sie riss sich los.
Victor beobachtete Vera Weber genau. Die Frau rief. Die Frau schrie. Victor öffnete das Fenster und ließ die Hand auf der Klinke ruhen. Eine sanfte Brise trug frostige Klänge in den Raum. Er hatte diese Klänge früher schon einmal gehört. Vor langer Zeit. Es waren Klänge des Schmerzes. Der Verzweiflung. Des Wahnsinns. Die Klänge berührten etwas in seinem Inneren, was sich langsam löste. Ihn schauderte.
Die Frau kniete bei der Decke und zog sie mit einem Ruck weg. Sie machte den Tod wieder sichtbar. Ihre Stimme war verstummt. In atemloser Stille nahm sie den Kopf des Kindes in die Hände und legte ihn auf ihren Schoß. Sie streichelte sein Haar. Gleichzeitig sprach sie zu ihm. Wusste sie nicht, dass er tot war?
Gott gibt und Gott nimmt, Victor. Merk dir das.
Dann begriff die Frau. Mit einem Mal
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