Der Engelmacher
begriff sie es, denn sie sprach nicht mehr zu dem Jungen. Sie sah auf, legte den Kopf in den Nacken, streckte die Hände in die Luft und griff nach etwas, das nicht da war. Und im selben Augenblick, als sie derart ins Nichts griff, fing sie wieder an zu schreien. Das Geschrei erklang aus weiter Ferne und großer Tiefe, und wieder berührte der Klang etwas in Victor Hoppe und ließ ihn erneut erschaudern.
Er schloss das Fenster und schottete sich damit von den Klängen ab. Der Schauder ließ nach. Was er gehört hatte, blieb ihm fremd. Er fand es sonderbar, weil er es nicht kannte. Weil er es nicht wusste. Er wusste nicht, dass eine Mutter so sehr um ihr Kind trauern konnte.
Die Eltern von Gunther waren überrascht über den Besuch von Doktor Hoppe. Sie hatten ihren Sohn zu Hause aufgebahrt, sodass man ihn noch ein letztes Mal sehen konnte. Der Doktor war als einer der Ersten gekommen.
»Herzliches Beileid«, hatte er gesagt, »ich verstehe, was Sie empfinden.«
Sein Kommen und seine Worte hatten Eindruck gemacht. Lothar und Vera Weber fanden es sehr tapfer, dass er gekommen war, um seine Anteilnahme zu bezeugen, während er doch selbst schreckliche Dinge durchzustehen hatte und schon sehr bald nicht nur ein Kind, sondern gleich drei verlieren würde. Deshalb hatten sie ihn auch nicht zu fragen gewagt, ob er persönlich Abschied nehmen wollte. Es war womöglich zu aufwühlend. Aber er hatte selbst darum gebeten.
»Soll ich mitkommen?«, hatte Lothar vorgeschlagen.
Doch auch das war nicht nötig gewesen. Doktor Hoppe war alleine hinter den dunklen, schweren Vorhängen verschwunden, hinter denen der Junge aufgebahrt lag. Lange war er nicht geblieben, aber dafür hatten die Eltern Verständnis gehabt. Sie hatten noch Kaffee angeboten, aber er hatte freundlich abgelehnt.
»Wenn ich Ihnen in Zukunft mit irgendetwas helfen kann«, hatte er zum Schluss noch gesagt, »nehmen Sie ruhig Kontakt mit mir auf. Sie brauchen sich nicht in den Willen Gottes zu ergeben.«
Damit war er gegangen und hatte Gunthers Eltern verwirrt zurückgelassen.
Mit dem Skalpell hatte er routiniert einen zwei Zentimeter langen Schnitt vorgenommen. Der Hodensack war zusammengeschrumpelt, steif geworden wie bei einem Sprung in kaltes Wasser, eine körperliche Reaktion, um die Hoden zu schützen. Dadurch blieb die Temperatur länger konstant, sodass vielleicht auch die Körperzellen länger am Leben geblieben waren. Letzteres war eine Spekulation, aber keine ganz unbegründete. Andernfalls habe ich zumindest ein paar Geschlechtszellen gewonnen, mit denen sich etwas anfangen ließ, hatte er gedacht.
Die Hoden hatten die Größe und die Form zweier getrockneter weißer Bohnen, die zu lange eingeweicht worden waren. Mit schneller Hand hatte er sie beide von den Samensträngen abgeschnitten, woraufhin er sie in ein kleines, mit Watte gefülltes Gefäß getan hatte, das in der Innentasche seiner Jacke verschwunden war.
Geräuschlos hatte er die Hose des aufgebahrten Jungen wieder zugemacht.
Wir ergeben uns in den Willen Gottes.
Das hatte über dem Trauerbrief gestanden, den Victor an jenem Morgen, bevor er die Familie Weber aufgesucht hatte, in seinem Briefkasten gefunden hatte.
Er hatte darin eine neue Herausforderung gesehen. Als wäre ihm wieder ein Fehdehandschuh zugeworfen worden.
Dadurch war alles andere unwichtig geworden. Als wäre es nie geschehen. Es war getilgt. Ein für alle Mal.
3
Schon der erste Anblick war ein Schock. Die Kinder sahen alt aus, schrecklich alt, und das kam vor allem durch ihre Haut, die wie ausgetrocknetes Leder wirkte. Außerdem waren sie mager, wirklich nur noch Haut und Knochen. Rex hatte es auf den ersten Blick gesehen und sogleich weggeschaut, aber wie von selbst wanderten seine Augen immer wieder zu den Kindern zurück. Es war nicht der Blick des Wissenschaftlers, sondern der des Voyeurs.
Victor selbst näherte sich den Kindern durchaus auf wissenschaftliche Weise. Er sprach über sie wie über Studienmaterial, und das sogar in ihrer Gegenwart. Es war beängstigend, und Rex fühlte sich unwohl dabei. Der Doktor setzte die drei Jungen nebeneinander und wies seinen Gast dann auf Details ihrer körperlichen Übereinstimmung hin: die Form der Ohrmuschel, der Stand der spärlichen Zähne, das Muster der Adern auf dem Schädel und die Missbildung von Nase und Oberlippe.
Dann hob er auch die Unterschiede hervor, wobei er betonte, dass die erst viel später entstanden seien. Es gab individuell abweichende
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