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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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kleine Falten und Grübchen in den gegerbten Gesichtern, und auf den knochigen Handrücken hatten alle drei Kinder braune Flecken unterschiedlicher Größe und Form. Victor gab dazu keinerlei Erklärung ab, aber Rex vermutete, dass es Altersflecken waren.
    Ihm fiel auch auf, dass einer der drei viel mehr solcher Flecken hatte als die anderen beiden, und er fragte sich, ob bei diesem der Alterungsprozess schneller verlief. Es war derselbe, der auch eine Narbe am Hinterkopf hatte, die er dem Doktor zufolge von einem Sturz zurückbehalten hatte, und eine auf dem Rücken, als Folge einer Nierenoperation – ein Experiment, das leider erfolglos geblieben war, wie Victor zugab.
    Aber davor, betonte er nochmals, bevor der Alterungsprozess so sichtbar geworden sei, seien sie nicht voneinander zu unterscheiden gewesen. Sie hätten einander so sehr geglichen, dass er sie markiert hatte. Wie bei Mäusen, fügte er hinzu, ohne auch nur die geringste Verlegenheit oder Ironie in der Stimme, als sei das ein ganz normales Prozedere. Bei jedem der Kinder hob er das Hemd an und zeigte Rex die Tätowierungspunkte auf dem Rücken: einen bei Michael, dem Erstgeborenen, zwei bei Gabriel und drei Punkte bei Raphael.
    »Oder auch Victor Eins, Victor Zwei und Victor Drei«, fügte er hinzu.
    Dabei fiel Cremers Blick auf den Brustkorb des jeweiligen Kindes. Sogar noch aus einem gewissen Abstand konnte er die Rippen zählen, über die die dünne Haut wie über einen Garderobenständer gehängt schien. Die Jungen wogen jeweils nur noch dreizehn Kilo, erzählte ihm Victor. Dreizehn Kilo bei einer Körpergröße von einem Meter und fünf, aber auch die Länge nahm immer mehr ab, weil das Rückgrat immer krummer wurde.
    V1, V2 und V3. Das stand auf den Alben mit Polaroidfotos, die Rex zu sehen bekam, als sie wieder unten im Sprechzimmer waren. Zwölf Alben voll Fotos. Auf dem unteren Rand war jeweils das Datum notiert und dazu V1, V2 oder V3.
    Victor Eins, Victor Zwei, Victor Drei. Drei Kinderleben in Bildern. Nein, das stimmte nicht, es waren keine Kinderleben. Die Bilder erinnerten überhaupt nicht an Schnappschüsse aus dem Familienalbum. Es waren Puzzlestücke. Puzzlestücke von Kinderkörpern, anhand derer die äußerliche Übereinstimmung der drei Jungen zu jedem beliebigen Zeitpunkt ihres Lebens nachgewiesen werden konnte. Aber beim Durchblättern der vielen Fotoreihen fielen Rex weniger die äußerlichen Übereinstimmungen auf als vielmehr der fortschreitende Verfall. Als dokumentierten die Alben nicht vier, sondern achtzig Jahre.
    Zu diesem Zeitpunkt hatte er eigentlich schon längst wieder weg sein wollen, aber Victor redete und erklärte pausenlos weiter, wobei er sich mehr als einmal wiederholte. Er erzählte seine Geschichte nüchtern und emotionslos, und Rex hörte ihm mit wachsendem Erstaunen zu. Er erzählte von der Intelligenz der Kinder, von ihrer Sprachbegabung, ihrem scharfen Gedächtnis. In all diesen Dingen, so Victor, habe er sich von Anfang an wiedererkannt. Und entsprechend habe er all diese Begabungen stimuliert und stimulieren lassen, damit die Kinder später wie er selbst ihr Wissen und ihre Einsichten in den Dienst der Menschheit stellen konnten. So formulierte er es: in den Dienst der Menschheit. Und wahrhaftig sagte er: wie ich selbst.
    Rex lief es kalt den Rücken hinunter, aber er schwieg und ließ den Doktor weitersprechen. Der beschäftigte sich inzwischen bereits mit den zukünftigen Schritten. Um das Problem mit den Telomeren zu lösen, hatte er sich überlegt, zukünftig Nervenzellen statt Hautzellen als Spendermaterial zu nehmen. Nervenzellen hätten sich viel seltener geteilt als andere Körperzellen, wodurch die Verkürzung der Telomere lange nicht so fortgeschritten wäre. Auch Knochenzellen kämen in Frage, weil die langsamer wüchsen als andere Körperzellen. Das gelte genauso für Körperzellen aus den Geschlechtsorganen, denn die fingen erst später an, sich zu teilen, nach der Pubertät, wodurch sie also jünger seien und längere Telomere hätten. Die Einfachheit und Logik, die all das hatte, rief Rex erneut in Erinnerung, warum er Victor damals in jeder Hinsicht grünes Licht gegeben hatte. Der Doktor war und blieb seiner Zeit voraus.
    Rex spürte, wie er langsam, aber sicher in die Gedankenwelt Victors hineingesogen wurde. Victors monotone, nasale Stimme tat ein Übriges dazu. Ich muss hier weg. Dieser Gedanke schoss ihm plötzlich durch den Kopf: Ich muss hier weg, bevor ich mich noch tiefer

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