Der Engelmörder - Spindler, E: Engelmörder
schauen.“
„So wie du es gemacht hast?“, fuhr sie ihn an.
„Ja, in dieser Art.“ Er hielt inne, und als er weitersprach, klang seine Stimme tonlos. „Ich werde wieder heiraten, Kitt.“
Sekundenlang konnte sie nur dastehen und ihn anstarren, dann ließ sie sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch sinken. Ganz bestimmt hatte sie sich nur verhört, etwas anderes war gar nicht möglich. Joe wollte wieder heiraten?
„Du kennst sie nicht“, fuhr er fort, bevor sie etwas fragen konnte. „Sie heißt Valerie.“
Kitts Kehle war wie ausgetrocknet, und sie fühlte sich benommen. Was denn? Hatte sie etwa erwartet, er würde ihr für alle Zeit nachtrauern?
Ja, ganz genau.
Es fiel ihr sehr schwer, eine gelassene Miene zu wahren. „Ich wusste nicht, dass du eine Frau kennengelernt hast, mit der es dir so ernst ist.“
„Es gibt auch keinen Grund, warum du davon wissen solltest.“
Keinen Grund? Sie konnte genügend Gründe vortragen, die für ein ganzes Leben reichten! „Wie lange seid ihr schon zusammen?“
„Vier Monate.“
„Vier Monate? Das ist nicht sehr lang. Bist du dir sicher, dass …“
„Ja.“
„Wann ist der große Tag?“ Ihre Stimme hörte sich sogar in ihren Ohren bemüht freundlich an.
„Ein Datum haben wir noch nicht festgelegt, aber es wird bald sein. Alles im kleinen Rahmen, nur ein paar Angehörige und einige gute Freunde.“
„Verstehe.“
Er wirkte sichtlich frustriert. „Mehr hast du dazu nicht zu sagen?“
„Nein.“ Sie stand auf, während ihr Tränen kamen, die er aber nicht sehen sollte. „Ich hoffe, ihr beide werdet glücklich miteinander.“
8. KAPITEL
Mittwoch, 8. März 2006
12:10 Uhr
Kitt saß an ihrem Schreibtisch, neben ihr stand die braune Papiertüte mit ihrem Mittagessen, das sie bislang nicht angerührt hatte. Vor ihr lagen die Akten über die erste Mordserie. Obwohl sie alle Daten auch im Computer hätte abrufen können, bevorzugte sie die Papierform.
Sie zog das Foto des ersten Opfers aus der Mappe. Mary Polaski. Es schmerzte, das Bild zu betrachten. Kitt hatte die Kleine enttäuscht, und ihre ganze Familie dazu.
Es gelang ihr, diese Gedanken zu verdrängen. Stattdessen sah sie sich auch die anderen Fotos an und verglich sie mit denen von Julie Entzel. Warum hatte er ihre Hände in diese Stellung gebracht? Und warum war er das Risiko eingegangen, so viele Stunden am Tatort zu bleiben? Was war ihm so wichtig gewesen?
Das Telefon klingelte, und sie nahm gedankenverloren den Hörer ab, ohne den Blick von den Bildern zu nehmen. „Detective Lundgren.“
„Detective Kitt Lundgren? Dieselbe, die vor fünf Jahren den Engelmörder gejagt hat?“
„Genau die. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“
„Ich glaube eher, ich kann Ihnen behilflich sein.“
Ein derartiger Anruf konnte sie nicht überraschen. Am Morgen lautete der Aufmacher der Zeitung Engelmörder ist zurück! Viel verwunderlicher war, dass sich erst jetzt jemand bei ihr meldete, der etwas gesehen hatte – oder der glaubte, etwas gesehen zu haben. „Ich freue mich über jede Hilfe.Wie heißen Sie?“
„Ich bin jemand, den Sie schon seit Langem kennenlernen wollten.“
Der amüsierte Unterton störte sie. Sie hatte keine Zeit für Verrückte, und sie wollte auch nicht, dass jemand mit ihr irgendwelche Spielchen trieb. Genau das sagte sie ihm auch.
„Ich bin der Engelmörder.“
Eine Sekunde lang überlegte sie, ob das stimmen und ob es so einfach sein könnte.
Nein, das war einfach unmöglich.
„Sie sind also der Engelmörder“, wiederholte sie. „Und Sie wollen mir helfen.“
„Ich habe dieses Mädchen nicht umgebracht. Das, von dem heute in der Zeitung berichtet wird.“
„Julie Entzel meinen Sie?“
„Ja, richtig.“ Sie hörte ein leises Pfeifen, als würde der Mann an einer Zigarette ziehen. Rasch notierte sie ihren Eindruck. „Jemand hat mich kopiert.“
„Kopiert?“
„Jemand ahmt mich nach. Und das mag ich gar nicht.“
Kitt sah sich um, doch keiner ihrer Kollegen war am Platz. Einige waren dienstlich unterwegs, andere in der Mittagspause. Sie stand auf und winkte, weil sie hoffte, dass jemand im Flur von ihr Notiz nahm. Eine Fangschaltung! Der Anruf musste zurückverfolgt werden!
„Ich will, dass Sie dieses Arschloch fassen, damit das endlich aufhört.“
„Ich möchte Ihnen gern helfen“, sagte sie. „Aber auf der anderen Leitung wartet noch ein Gespräch. Bleiben Sie einen Moment dran.“
„Oh, wer treibt jetzt hier irgendwelche
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