Der Engelspapst
besichtigt, aber nach der Lektüre von Albert Rosins Aufzeichnungen sah er sie in einem neuen Licht. Das heißt, er hätte sie in einem neuen Licht gesehen, hätte er den Blick nicht unentwegt auf den unebenen Boden richten müssen, um nicht in eine der großen Pfützen zu treten.
Elena schien mit dem Professor gut bekannt zu sein, wenn der Kastellan sie zu ihm führte, ohne dass sie überhaupt nach ihm gefragt hatte. Alexander atmete ein wenig auf. Wenn sie sich so gut kannten, bestand Hoffnung, dass der Professor tatsächlich Stillschweigen bewahrte.
Solbelli war nicht nach links gegangen, wo das Ticketbüro lag und der offizielle Rundgang durch die Engelsburg begann. Er umrundete die steinerne Rotunde, die den Mittelpunkt der Anlage bildete, zur Rechten und führte sie vorbei an der Lukas-Bastion und dem dreistöckigen Gebäude, in dem Verwaltungsbüros und die Buchhandlung untergebracht waren. Sie passierten die am Ruhetag geöffneten Drehkreuze, die das Ende des Rundgangs markierten und an den anderen Tagen den Weg in diese Richtung versperrt hätten. Als sie an dem flachen Anbau mit den penetrant riechenden Besuchertoiletten vorbeikamen, beschleunigten alle drei wie auf einen geheimen Befehl ihren Schritt.
Nicht weit entfernt stand ein kleines zweistöckiges Haus, das an Verputz und Dachform eindeutig als neuerer Bau zu erkennen war, allenfalls hundert Jahre alt. Als Solbelli sie hineinführte, schoss Alexander der Gedanke durch den Kopf, dass dies für einen Professor ein recht bescheidenes Heim war.
Der Kastellan schüttelte die Regentropfen von seinem großen Schirm, stellte ihn zum Trocknen aufgespannt in die Diele und geleitete sie in eine kleine Küche, die von einem Wandkalender mit Renaissancegemälden beherrscht wurde. Diesen Monat verbreitete Tizians Venus von Urbino mit ihrer unbefangenen Nacktheit eine für den Raum überraschende Sinnlichkeit.
Solbelli ging zu dem alten Gasherd und griff nach einem fleckigen Wasserkessel. «Ich mache uns erst mal einen Tee. Das ist bei dem Wetter genau das Richtige.»
Während die blaurote Flamme unter dem Kesselboden züngelte holte Solbelli einen halben Kirschkuchen aus der Speisekammer, stellte ihn auf den schmalen Ecktisch und kümmerte sich um Teller, Besteck und Tassen. Als der Tee in den Tassen dampfte und jeder ein großes Kuchenstück vor sich hatte, ermunterte der Kastellan seine Besucher, kräftig zuzulangen.
Da Alexander Hunger verspürte, ließ er sich nicht lange bitten.
Im Stillen fragte er sich allerdings, wo der Professor stecken mochte.
«Ich freue mich immer, wenn Sie mich besuchen, Elena», sagte Solbelli mit breitem Lächeln. «Doch darf ich wohl annehmen, dass Ihr Interesse nicht in erster Linie einem alten Mann gilt.»
«Stapeln Sie nicht tief», erwiderte Elena in demselben spielerischen Tonfall; die beiden wirkten wie alte Freunde, die humorig ein erprobtes Begrüßungsritual zelebrierten. «Sie wissen sehr wohl, dass jede Unterhaltung mit Ihnen nicht nur ein Gewinn, sondern auch ein Genuss ist. Aber Sie haben Recht, ich bedarf wieder einmal Ihrer Hilfe. Alex, zeig dem Professor doch mal das Buch!»
«Das Buch … dem Professor …», stammelte er überrascht und starrte den alten Mann in der Strickjacke an. «Er ist der Professor?»
Solbelli machte eine abwehrende Handbewegung. «Ich bin kein Professor. Elena kann es nur nicht lassen, mich so zu nennen.»
«Oho, da bin ich aber keineswegs die Einzige», protestierte Elena. «Ich kenne einige hochrangige Wissenschaftler, die sich ganz offiziell Professor nennen dürfen und diesen Professor genauso anreden. Denn es gibt Fragen, die nur er beantworten kann.»
«Nun ist aber Schluss!», befahl der Kastellan, den man Professor nannte. «Was hat es mit diesem Buch auf sich?»
Das Buch steckte noch immer unter Alexanders Jacke. Als er zögerte, es hervorzuholen, zog Elena einen Flunsch und erklärte Solbelli: «Er hat Angst, Sie könnten ein Plappermaul sein, Professor. Dabei habe ich ihm versichert, dass Sie schweigsam sind wie eine Mumie.»
«Wie zwei Mumien.» Der Professor grinste Alexander an.
«Vertrauen Sie mir, und ich will sehen, was ich für Sie tun kann.»
Alexander gab ihm schließlich das Buch und sagte: «Zunächst wüsste ich gern, ob es echt ist.»
Solbelli betrachtete den Einband sorgfältig und ließ seine knotigen Finger behutsam über das Leder gleiten, als liebkose er seine Geliebte.
Dann schlug er das Buch auf, blätterte die ersten Seiten um, sah sie
Weitere Kostenlose Bücher