Der Engelspapst
verständnisvoll. Sie schien erleichtert darüber, dass er ehrlich war. «Ging das die ganzen Jahre hindurch?»
«Ja. Im Sommer sind wir oft zu unserer Bucht in Fregene gefahren. Sonst haben wir uns in einem kleinen, verschwiegenen Hotel in Trastevere getroffen.»
Er blickte aus dem Fenster, als könne man das Hotel von Elenas Wohnung aus sehen. Aber die Dächer von Trastevere bildeten in der einsetzenden Dämmerung ein undurchdringliches Gewirr aus sich auflösenden Konturen und Schatten. Von hier oben sah es aus wie eine Traumlandschaft, unwirklich wie jener ferne Sommertag am Meer.
«Und dein Onkel? Hat er nie etwas gemerkt?»
«Keine Ahnung. Wenn er es wusste oder ahnte, hat er es sich nicht anmerken lassen. Auf der Rückfahrt an dem bewussten Sonntag hat Juliette mir erklärt, dass ihr Liebesleben seit ein paar Jahren praktisch erloschen war. Sie gab Heinrich die Schuld, sagte, er habe urplötzlich kein Interesse mehr am Sex gehabt. Vielleicht war er sogar froh, dass ich in dieser Hinsicht seinen Part übernommen habe.»
«Das riecht nach Totus Tuus. Vollkommen der Deine, Herr, und nicht ein Sklave des Fleisches. So lernt man es bei den Verführern.»
«Mag sein», sagte Alexander. «Aber ganz war er den Verführern offenbar nicht verfallen. Sonst hätte das Haupt der Zwölf, mein Vater, nicht den Befehl gegeben, ihn und Juliette zu ermorden.»
Seine Stimme war frostig geworden und doch nicht kalt. Zorn schwang in ihr mit, Hass.
«Was hast du vor?», fragte Elena.
«Mein Vater hat alle verraten. Mich, als er seinen Tod vortäuschte. Heinrich und Juliette, als er sie ermorden ließ. Und jetzt den Papst, den er ebenfalls umbringen will. Ich muss ihn aufhalten. Und ich muss ihn bestrafen.»
«Alex, was meinst du damit?»
«Ich werde ihn töten!»
18
Mittwoch, 13. Mai
Alexander stand im strömenden Regen und starrte auf den Eingang zur Nervi-Halle. Die Vigilanzagendarmen vor der Halle und die römischen Polizisten drüben auf dem Petersplatz waren zahlreicher vertreten als sonst. Trotzdem hatten sie alle Hände voll zu tun, die Enttäuschten davon abzuhalten, die Audienzhalle zu stürmen. Die Halle war zum Bersten voll.
Noch nie hatte Alexander so viele Behinderte und Schwerkranke versammelt gesehen. Natürlich waren nicht nur Römer zur Generalaudienz erschienen. Die Medien hatten das Sonntagsgebet des Papstes über die ganze Welt verbreitet. Schon am Montagmorgen hatten Reisebüros auf allen Kontinenten Kurztrips nach Rom angeboten – zu der erwarteten Wunderheilung.
Der Heilige Vater musste mit solch einem gewaltigen Ansturm gerechnet haben. Dass er seinen Aufruf an die Kranken, zur Mittwochsaudienz zu kommen, trotzdem unters Volk gebracht hatte, zeigte nur, wie wichtig ihm sein Anliegen war. Welcher Art dieses Anliegen auch sein mochte, eins stand für Alexander fest: Der Einsatz seiner heilenden Kräfte war für Custos nur das Mittel zum Zweck.
Die Ordnungskräfte kämpften den Eingangsbereich der Audienzhalle frei. Auf dem Petersplatz herrschte mittlerweile genau solches Gedränge wie in der Halle. Die vielen tausend und abertausend Menschen, die zwischen den Kolonnaden standen und auf die noch weißen Großbildschirme starrten, konnten kaum einen Finger rühren. Und das war noch nicht alles. Die breite Via della Conciliacione war heute für den Autoverkehr gesperrt.
Erwartungsvolle Menschen füllten die Straße fast bis zum Tiber.
Schirme, tief ins Gesicht gezogene Kapuzen und das Plastik von billigen Regencapes, so weit das Auge reichte.
Obwohl die Gendarmen die enttäuschten Pilger zurück-gedrängt hatten, ging es vor der Nervi-Halle mehr als lebhaft zu.
Viel mehr Presse als sonst war erschienen. Ü-Wagen standen Stoßstange an Stoßstange, unzählige Kameras und Mikrofone waren aufgebaut. Schon die Ankunft des Papstes sollte als großes Spektakel live um den Erdball gehen. Custos persönlich hatte die Anweisung gegeben, allen interessierten Medien eine Sonderakkreditierung zu erteilen. Was immer er vorhatte, der Welt sollte auch nicht eine Sekunde seines Auftritts vorenthalten werden. Die Last der Verantwortung, die Alexander spürte, wurde ein wenig erträglicher, als er sich klarmachte, dass der Heilige Vater sich wahrscheinlich auch dann nicht von seinem Vorhaben hätte abbringen lassen, wenn es gelungen wäre, ihn vor dem Attentat zu warnen.
Gleichwohl war Alexander, der neben Elena und Spartaco Negro inmitten der Medienmeute stand, von großer Unruhe erfüllt. Immer wieder
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