Der Engelspapst
Christi beweisen, dass die kirchlichen Dogmen Jesu Lehre verdreht haben. Deshalb also sind die Päpste so peinlich darauf bedacht, den Stein zu behüten. Aber warum haben sie ihn nicht einfach vernichtet?»
«Wer zerstört schon, was ihm einmal nützlich werden könnte?» Solbelli zerdrückte den Stummel einer Zigarette in einem schweren Marmoraschenbecher. «Bedenken Sie, dass es in früheren Jahrhunderten etliche Gegenpäpste gab. Während des großen abendländischen Schismas konnten die Christen gleich unter drei Päpsten wählen. Es war jederzeit denkbar, dass eine solche Situation wieder entstand. Wer über die Wahre Ähnlichkeit Christi verfügte, konnte seine Rivalen ausstechen, indem er sich als einzig wahrer Pontifex ausgab, der zum rechten Glauben zurückgekehrt war. Außerdem zerstört man das einzige Abbild des Erlösers nicht so einfach, mag man sich von seiner Lehre auch noch so weit entfernt haben. Das wäre, als würde ein Sohn, der sich mit seinem Vater zerstritten hat, das einzige Foto von ihm verbrennen.»
Der letzte Satz brachte Alexander zum Bewusstsein, dass er sich in einer ähnlichen Lage befand. Allerdings hatte er beschlossen, mehr als die Erinnerung an seinen Vater auszulöschen. Als er Elena gesagt hatte, er werde das Haupt der Zwölf töten, war er sich seiner Sache sicher gewesen. Sein Vater war ein Verräter, ein Verschwörer, ein Mörder. Je länger er aber darüber nachdachte, desto schwankender wurde er. Vielleicht hatte Markus Rosin gute Gründe für das, was er getan hatte. Und wer, wenn nicht sein eigener Sohn, sollte ihm eine Gelegenheit bieten, sich zu rechtfertigen?
Alexander fuhr sich über die Stirn, als könne er so die quälenden Gedanken beiseite schieben, und sagte: «Päpste und Gegenpäpste waren also gleichermaßen an diesem Smaragd interessiert. Auf welcher Seite stand Abbas de Naggera?»
Solbelli stieß einen schweren Seufzer aus und runzelte die Stirn. «Auf der unseren, fürchte ich. Ich kann mir denken, dass Sie das verwirrt. Aber vergessen Sie nicht: Die Jagd nach der Wahren Ähnlichkeit Christi währt schon Jahrhunderte. Damals herrschten raue Sitten.»
«Nicht nur damals», sagte Alexander düster, während er in seiner Erinnerung noch einmal das Attentat vor der Nervi-Halle durchlebte.
«Im Laufe der Jahrhunderte haben auch die Auserwählten ihre Ziele und Methoden geändert», fuhr Solbelli fort. «Heute würden wir keinen Sacco di Roma mehr anzetteln, um an den Smaragd zu kommen.»
«So viel zu den Methoden.» Alexander blickte Solbelli herausfordernd an. «Was ist mit den Zielen? Sie haben einen der Ihren zum Papst gemacht. Ist das nicht genau das, was die Auserwählten schon vor fünfhundert Jahren erreichen wollten?»
«Damals war es das Ziel, heute ist es das Mittel zum Zweck.
Vor Jahrhunderten, als die Menschen noch zutiefst vom Glauben an Gott durchdrungen waren, hätte ein Papst aus unseren Reihen ihnen den rechten Glauben verhältnismäßig leicht verkünden können. Heute, da den großen Kirchen Legionen von U-Boot-Gläubigen angehören, die nur zu Ostern und zu Weihnachten zum Gottesdienst auftauchen, da die wahren Götter der Neuwagen und der Jahresurlaub sind, da Jesus Christus mit Pop-und Filmstars konkurriert, ist ein Wandel im Glauben nicht einfach herbeizuführen. Wäre Gardien ein langes Pontifikat beschieden gewesen, hätte er vielleicht etwas bewegen können, aber nur langsam und bedächtig.»
«Seine großartige Ankündigung, sich bei der Audienz als Wunderheiler zu betätigen, sah mir aber nicht nach bedächtigem Vorgehen aus.»
Solbelli blickte noch bekümmerter drein als zuvor. «Da bin ich Ihrer Meinung, Signor Rosin. Nicht alle von uns waren mit diesem Vorpreschen einverstanden. Gardien fühlte sich durch die sich überstürzenden Ereignisse dazu getrieben, glaubte, auf diese Weise unsere Feinde von weiteren Untaten abhalten zu können. Ein tragischer Irrtum. Er hat die größte Untat damit erst herausgefordert.»
«Wollte mein Onkel ihm den Smaragd übergeben?»
Der Universalgelehrte nickte. «Heinrich Rosin stand kurz davor. Er hat mit Gardien lange Gespräche geführt.»
«Was ist mit Leonardo da Vinci? Gehörte er zu den Ihren?»
«Sagen wir, er war ein Verbündeter. Wie die Heilige Römische Kirche haben auch die Electi im Laufe ihrer Geschichte innere Krisen und Abspaltungen erlebt. So sind mehrere Gruppen entstanden, die zwar dasselbe Ziel verfolgten und auch häufig zusammenarbeiteten, aber doch verschiedene
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